Politische Philosophie des Gemeinsinns. Oskar Negt

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Politische Philosophie des Gemeinsinns - Oskar Negt

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zur eben zitierten Stelle bei Hegel, wo es weiter heißt: »[…] – aber eben darum ist er [der allgemeine Wille, Anm. Negt] unvermittelt eins mit dem Selbstbewußtsein, oder er ist das rein Positive, weil er das rein Negative ist; und der bedeutungslose Tod, die unerfüllte Negativität des Selbsts, schlägt im inneren Begriffe zur absoluten Positivität um.«95 Tod begegnet uns hier in einer doppelten Funktion: Für Hegel ist die Reduktion des Menschen von der Realität, die Vereinseitigung der Realitätswahrnehmung ein Moment des Todes. Abstraktion hat immer etwas mit Tod, Tötung, toter Arbeit zu tun. Abstraktion trennt etwas aus konkreten Zusammenhängen, isoliert etwas. Das Isolierte ist das Todgeweihte im Begriff wie in der Realität. Der abstrakte Rückzug von der Realität ist auch ein Moment der physischen Zerstörung und Aufzehrung. »Für das Bewußtsein verwandelt sich die unmittelbare Einheit seiner mit dem allgemeinen Willen«.96 Es ist nicht einfach die Beziehung auf einen Willen, sondern das absolute Selbstbewusstsein kann sich an einem Allgemeinen und Außenstehenden stabilisieren ohne die Vermittlung durch die Realität. Es gibt gewissermaßen einen heißen Draht zwischen dem abstrakten Selbstbewusstsein und der ganzen Menschheit, der sich im allgemeinen Willen ausdrückt. Das ist das befriedigende, das libidinöse Moment in dieser Abstraktion, dass hier also eine Kurzschaltung zwischen dem allgemeinen Willen und dem Selbstbewusstsein besteht.

      »Für das Bewußtsein verwandelt sich die unmittelbare Einheit seiner mit dem allgemeinen Willen, sich als diesen bestimmten Punkt im allgemeinen Willen zu wissen«,97 also sich zu lokalisieren im allgemeinen Willen und im allgemeinen Gesetz. Das heißt, die Identität zwischen Allgemeinem und Besonderem ist nicht vermittelt, sondern es ist eine unmittelbare Identität, die es dem Einzelnen ermöglicht, sich in diesem allgemeinen Willen einen Platz zu sichern als Ausdrucksform dieses allgemeinen Willens: »Für das Bewußtsein verwandelt sich die unmittelbare Einheit seiner mit dem allgemeinen Willen, seine Forderung, sich als diesen bestimmten Punkt im allgemeinen Willen zu wissen, in die schlechthin entgegengesetzte Erfahrung um. Was ihm darin verschwindet, ist das abstrakte Sein oder die Unmittelbarkeit des substanzlosen Punkts«.98 Das Selbstbewusstsein hat nicht nur das Gefühl, die ganze Realität in sich zu haben, sondern noch viel mehr: die Gesetze darüber, wie die Realität aussehen soll. Der allgemeine Wille als gesetzgebendes Organ für diese Realität steckt in diesem Selbstbewusstsein mit drin. Das sich entwickelnde Selbstbewusstsein hat das Gefühl, mehr zu haben als die Realität, weil es den Anspruch an die Realität festhält. Es macht die entgegengesetzte Erfahrung: »und diese verschwundene Unmittelbarkeit ist der allgemeine Wille selbst«, die aufgehobene Unmittelbarkeit ist der allgemeine Wille selbst, »als welchen es sich nun weiß«. Es weiß sich nicht mehr als abstraktes Selbstbewusstsein, es weiß sich als allgemeinen Willen, als das, was es selbst nicht mehr ist und was es nicht mehr sein muss, weil es der allgemeine Wille ist, »insofern es aufgehobene Unmittelbarkeit, insofern es reines Wissen oder reiner Wille ist. Hierdurch weiß es ihn als sich selbst und sich als Wesen, aber nicht als das unmittelbar seiende Wesen, weder ihn als die revolutionäre Regierung oder als die die Anarchie zu konstituieren strebende Anarchie«.99 Das heißt, die Auflösung von äußerer Herrschaft kann von dieser Position aus nur zu einem Zustand führen, den Hegel als Anarchie bezeichnet. Der Anarchist kann nur Anarchie erzeugen, deshalb kann der allgemeine Wille in dieser abstrakten Form nur das erzeugen, was in ihm selbst steckt. So kann man das vielleicht verstehen.

      Was passiert mit dem Einzelnen in dieser Situation, was geht in ihm vor mit so einer direkten Beziehung zum allgemeinen Willen?:

      […] der allgemeine Wille ist sein reines Wissen und Wollen, und es ist allgemeiner Wille, als dieses reine Wissen und Wollen. Es verliert darin nicht sich selbst, denn das reine Wissen und Wollen ist vielmehr es, als der atome Punkt des Bewußtseins. Es ist also die Wechselwirkung des reinen Wissens mit sich selbst; das reine Wissen als Wesen ist der allgemeine Wille; aber dieses Wesen ist schlechthin nur das reine Wissen. Das Selbstbewußtsein ist also das reine Wissen von dem Wesen als reinem Wissen. Es ferner als einzelnes Selbst ist nur die Form des Subjekts oder wirklichen Tuns, die von ihm als Form gewußt wird; […].100

      Das ist der springende Punkt: Diese Subjekte vermitteln sich mit sich selbst, mit einem Allgemeinen, das sich als das Besondere ihres Allgemeinen herausstellt. Die Besonderung erweist sich darin, und die Vermittlungsprozesse, durch die sich das vollzieht, sind ihre eigenen, spielen sich in ihrer Innerlichkeit, in ihrer Subjektivität ab. Sofern der Einzelne wirklich handelt, wird das als Form gewusst. Das heißt, er handelt nicht als empirisches Individuum und wo er so handelt, begreift er das Handeln als Form, als immer schon Allgemeines, mit der absoluten Zumutung des Allgemeinen an jeden möglichen anderen: »[…] ebenso ist für es [das Selbstbewusstsein, Anm. Negt] die gegenständliche Wirklichkeit, das Sein, schlechthin selbstlose Form, denn sie wäre das nicht Gewußte; dies Wissen aber weiß das Wissen als das Wesen.«101

      Das heißt, die gegenständliche Realität erscheint als die schlechthin selbstlose Form, als jene Form, in die man beliebige Inhalte einbringen kann. Die Realität wird selbst zur Form in dem Maße, wie das Individuum formale, allgemeine Tätigkeit wird. Sie wird zu einem undifferenzierten Ganzen, zu einer bloßen Form von Aktivität des Allgemeinen. Und in der Tat ist es für diese Form auch völlig gleichgültig, an welchem Punkte man ansetzt und ob man überhaupt etwas Konkretes von ihr weiß. Das ist gleichgültig, wenn man nur die Realität als das schlechthin andere des Allgemeinen begreift. Das ist der wichtigste Punkt der Fixierung des anderen. Es ist ein selbstloses Sein. Auch hier die Ambivalenz des Begriffes. Warum ein selbstloses Sein? Es bringt keinen Widerstand auf. Es ist ein selbstvergessenes Sein. Es gibt niemanden, der in diesem Sein tatsächlich Widerstand leistet, sondern es ist als Allgemeines subjektlos, wie es der Kantische Revolutionsbegriff ist. Es hat keine Subjekte, die handeln und ihm Widerstand leisten.

      Was ist die Folge von dieser Abstraktion? Hegel versucht hier, diese Unvermitteltheit aufzuzeigen am Problem des Terrors während der Jakobinerherrschaft. Dieser allgemeine Wille ist die jakobinische Form der Realitätsbeziehung und ist eine bürgerliche Form geblieben. Die Individuen lassen die Realität, so wie sie ist, genau durch die Absolutheit dieses Anspruchs. Durch die Moralität bleibt die Realität das, was sie ist. Dieser Anspruch, dass eine Identität zwischen Allgemeinem und Besonderem immer schon besteht und nicht erst hergestellt werden muss, macht es möglich, dass man die Realität so lässt, wie sie ist. »Das Verhältnis also dieser beiden, da sie unteilbar absolut für sich sind und also keinen Teil in die Mitte schicken können, wodurch sie sich verknüpften, ist die ganz unvermittelte reine Negation, und zwar die Negation des Einzelnen als Seienden in dem Allgemeinen.«102 Und jetzt kommt die Konsequenz von Hegel, die wirklich bestürzend ist: »Das einzige Werk und Tat der allgemeinen Freiheit ist daher der Tod, und zwar ein Tod, der keinen inneren Umfang und Erfüllung hat; denn was negiert wird, ist der unerfüllte Punkt des absolut freien Selbsts; er ist also der kälteste, platteste Tod, ohne mehr Bedeutung als das Durchhauen eines Kohlhaupts oder ein Schluck Wassers.«103

      Diese Dialektik der Gewalt, die verknüpft ist mit dem allgemeinen Willen und der Transposition des Selbst in diesen allgemeinen Willen und mit einer unvermittelten Stellung zur Realität, lässt nur eine Selbstbehauptung des Einzelnen zu, die völlig unangesehen konkreter Vermittlungen gleichzeitig auch das Risiko des Todes einschließt. Das ist ein Grundmotiv bürgerlichen Denkens und der deutschen Geschichte.

      Meine Schlussfolgerung aus dem Ganzen ist, dass jene, und ich beziehe mich hier gar nicht nur auf die RAF, die dieser Dialektik von gegenseitiger Abstraktion unterliegen – von Selbstbehauptung des Willens, Moralität und dem Einsatz der lutherischen Form, »Hier stehe ich, ich kann nicht anders« –, dass jene diese Dialektik nur mit der Realität erfahren, die sich in ihnen selbst abspielt, wenn diese Realität nichts dazwischen schickt, wenn die Vermitteltheit nicht gesichert ist.

      Das heißt allerdings auch, dass man sich die Realität, in der man handelt, nicht aussuchen kann. Diese erfahrende Dialektik ist, glaube ich, ein wesentliches Element für das Verständnis des absoluten Unterschieds zwischen

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