Mords-Töwerland. Angela Eßer

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Mords-Töwerland - Angela Eßer

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ich zu schreien? Irgendwann schon. Es dauert. Man schreit nie gleich. Und wenn man es dann versucht, kommt nichts, es geht nicht. Doodstill. Kein Laut dringt aus dem Fleischgefängnis.

      Nun fühle ich mich aufgefordert, Auskunft zu geben über meine Kindheit, aber gezögert habe ich damit lange, vielleicht auch, weil ich keine genauen Erinnerungen habe an exakte Daten und Orte, und ich hasse Ungenauigkeit.

      Wann also diese Anwesenheit sich zum ersten Mal gezeigt hat mit Gesicht, vermag ich nicht zu sagen. Viele Male spürte ich sie, sie zeigte sich mir erst später. Und als sie es tat, kam es mir vor, als hätte ich sie schon immer gekannt und schon immer von ihr gewusst.

      Eine alte Frau, die bei einem in der Ecke sitzt oder steht. Oder, in den Worten der vielfältigen Literatur darüber aus den vergangenen Jahrhunderten: ein altes Weib. In schwarzen Kleidern, bei denen ich den Übergang von Rock oder Kleid zu Umhang und Kopftuch nicht erkennen konnte im dunklen Zimmer.

      Ein altes Weib, das von da an jede Nacht bei mir im Zimmer war, in der Ecke des Kinderzimmers des kleinen Schulmädchens, das ich war. Bis das alte Weib zu mir ans Bett kam.

      Aber das war später.

      Noch einmal möchte ich an dieser Stelle meine Enttäuschung über die Ungenauigkeit festhalten, niemand leidet darunter mehr als ich.

      Das alte Weib also, in einem schwarzen, groben Kleid wie seit unsterblicher Zeit. Die Haare verborgen unter einem ebenso dunklen Kopftuch, eng gewickelt, das Antlitz im Dunkeln des Zimmers reduziert auf das Allernötigste: den Abhang des Kinns, den Vorsprung der Nase, die Fläche der Stirn ins Dunkel des Kopftuchs und von den Zügen des Gesichts nur Falten zum Erahnen. Lange Ärmel, Strumpfhosen wie aus Drillich.

      Zu deutlich? Für etwas, von dem ihr sagt, das gibt es nicht?

      Nun, ich fühlte die alte Frau mehr, als dass ich sie sah, später, als sie auf mir saß und mich niederdrückte in die Kissen und Decken mit den knochigen Fingern und der dem Tode geweihten Endkraft der wirklich Alten. Ihr Atmen, der roch wie die Dunkelheit der Welt selbst, wie etwas, das von innen stirbt. Und ich, das Kind, unter ihr, unfähig, mich zu rühren, mich zu wehren, ihr zu entkommen.

      Kinder, heißt es immer, ich habe es später oft gelesen und gehört, Kinder sind robust, stärker als man denkt. Ihr Geheimnis ist, dass sie sich an alles gewöhnen.

      Jede Nacht. Was sollte ich tun, als mich zu gewöhnen, wenn das alte Weib jede Nacht zu mir kam.

      Nun wagte ich nicht mehr zu schlafen in meinem Bett und in der Nacht. Ich schlief in der Schule, im Sonnenlicht hinter dem Netzschuppen in Onkel Heinis Garten. Beim Abendessen weinte ich in Erwartung meines Bettes und des alten Weibes und der mir bevorstehenden Nacht im Fleischgefängnis. Tränen mochte meine Mutter nie, darum dann wieder die Faust. Bis ich ihr erzählte in der Sprache, die ich aus der Schule kannte und von den anderen Mädchen, die einander Freundinnen nannten: de sware Drööm. Albträume. Wie schlecht ich träumte, jede Nacht. Und von der alten Frau.

      Meine Mutter umfing mich zärtlich, als wäre ich gerade zum zweiten oder in Wahrheit überhaupt zum ersten Mal geboren worden, endlich zur Welt gekommen.

      Zu ihrer Welt.

      Viel später habe ich eine undeutliche Vorstellung davon bekommen, wie andere Eltern reagiert hätten auf ein Kind meines Alters, das mit diesen Bildern zu ihm kam. Sie hätten gesagt: Es ist nur ein Traum. Du hast schlecht geträumt. Ein böser Traum. Aber jetzt ist alles wieder gut. Alles wird gut. Mama ist ja da. Papa ist ja da. Du hast nur geträumt, min Deern.

      Die Worte aber, die meine Mutter an mich richtete, waren mir vertraut, bevor sie sie aussprach. Ja, während ich sie hörte, wurden sie ein Teil von mir, und kaum waren sie verklungen, fühlte ich mich, als wären sie ein Teil von mir. Wenn du Kind bist, besteht deine Welt aus den Worten und den Taten deiner Eltern.

      Meine Mutter sagte: »Oh, du hast sie getroffen, du hast sie getroffen. Ich bin so froh, dass sie zu dir gekommen ist.« Sie nahm mich in den Arm, ohne Faust, dabei hätte ich, wie ich jetzt zugeben kann, so gern eine Leckmuschel gehabt. »Du hast eine alte Frau gesehen?«, fragte meine Mutter, als sollte ich eine Landschaft beschreiben, die sie auch schon bereist hatte, die ihr aber durch meine Beschreibung noch einmal lebendiger wurde, wie bei ihrem ersten Male. »Und was hast du noch gesehen?«

      Ich weinte. Vielleicht, weil ich auf die Faust mit der Leckmuschel hoffte, denn manchmal kam sie, wenn ich weinte. Vielleicht, weil ich erleichtert war. Vielleicht, weil ich nun noch mehr Angst hatte vor den Träumen, die keine waren, weil meine Mutter das sagte.

      »Ich weiß es nicht«, sagte ich, »eine … als ob noch jemand da wäre. In der Zimmerecke.«

      »Aber du kannst nicht sehen, du kannst noch nicht sehen, wer es ist?«, fragte meine Mutter, ihre Stimme gesenkt. Sie hatte sich vor mich gekniet auf das hellgelbe Küchenlinoleum, und weil sie so leise sprach, hörte ich fast nur, wie draußen auf dem Wäscheplatz eine der Nachbarinnen die Teppiche über der Stange ausklopfte, und weil Sommer war und alle Fenster offen und die Wohnung klein und der Wäscheplatz nah, trieb der Staub aus einem anderen Leben in unsere Wohnung.

      Ich schüttelte den Kopf.

      »Hast du deinen Vater gesehen?« Meine Mutter flüsterte jetzt, aber woran hätte ich ihn erkennen sollen. Und ein Mann war nicht gekommen. Meine Mutter ballte die Faust, atmete tief und öffnete sie dann, sie schob mir eine Strähne, die sich aus dem Zopf gelöst hatte, aus der Stirn und schob mich von sich fort. »Vielleicht kommt er noch.«

      Die alte Frau kam nun jede Nacht. Andere Kinder hatten Albträume, aber ich hatte gelernt von meiner Mutter, dass ich Besuch hatte. »Eckenwesen«, sagte sie morgens beim Frühstück, ohne Fragezeichen, und ich nickte immer.

      Je älter ich wurde, desto mehr kämpfte ich gegen das alte Weib, das nachts auf meinem Brustkorb saß. Im Kampf fiel ich in tiefen, toten Schlaf, und wenn ich aufwachte am Morgen, waren meine Finger wund und meine Haut aufgeschürft, wo das alte Weib mich gehalten hatte.

      Als mein Körper und meine Seele sich zu verändern begannen, fürchtete ich meine Mutter, dann fing ich an, sie zu hassen, und die Eckenwesen noch mehr. Pubertät, sagte die Lehrerin, das Wort war uns noch fremd, es klang nach einer Krankheit, in der Familie sagte man: Das Mädchen wird zur Frau. Ich entglitt meiner Mutter und genoss, dass sie es spürte, ohnmächtig, wie sie nicht mehr wagte, die Faust zu erheben gegen die 13-, 14-Jährige, die Faust, die sie dem kleineren Kind geschenkt hatte.

      Vor ihrer Ohnmacht und vor meinem Hass floh ich an Orte, die anders waren als unser Zuhause hinter der Teppichklopfstange. Die Kneipe am Hafen mit Glücksspielautomaten, wo der Wirt mich Cola mit Rotwein trinken ließ und hinauswarf, wenn Gäste kamen. Der Fährhafen, weil die Menschen dort wegkamen. Die Inselbücherei, denn da gab es Bücher. Meine Welt war längst zerfallen in zwei Teile: Flucht bei Tageslicht, bei Nacht Gefangenschaft in meinem Körper, gelähmt vor den Anwesenheiten in meinem Raum und auf meiner Brust.

      In einer Augenblicksverzweiflung suchte ich Rat in einem alten Handbuch über Träume: was in ihnen wiederkehrt und was es bedeutet.

      »Dies ist eine Bibliothek, wenn ich Sie um Ruhe bitten darf«, sagte jemand scharf durchs Regal, als ich schluchzte an meinem Tisch, der erste ehrliche Ton, den ich in meinem Kinderleben der Lähmung entrissen hatte. Denn es gab ein ganzes Kapitel im Buch über das, was mir widerfuhr und meiner Mutter wohl auch.

      Sie nannten es »Schlaflähmung« und beschrieben, wie es war und wie ich es kannte, zu träumen und doch wach zu sein, sich nicht rühren zu können, nicht schreien zu können, und

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