Mords-Töwerland. Angela Eßer
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Brav setze ich mich vor sie hin, mache Männchen, bereit zuzuschnappen, wenn mir ein Gebäckstück vor die Schnauze gehalten wird. Aber Frau Sönksen scheint mich plötzlich nicht mehr zur Kenntnis zu nehmen. Irgendwas hat sie erschüttert. So gewaltig, dass ihr nun die Tüte mit dem Gebäck aus der Hand fällt. Nun gut, das ist mir recht. Noch lieber fresse ich natürlich alles auf einmal auf, als für jedes Gebäckstück Männchen zu machen.
Erst als das ganze Schwarz-Weiß-Gebäck verputzt ist, kümmere ich mich um das Theater, das am Schiffchenteich herrscht.
»Polizei!«
Schon wieder? Warum? Ich dränge mich durch die vielen Beine, die um den Schiffchenteich herum stehen, und da sehe ich die Bescherung. Thea mit den lila Haaren liegt im Wasser. So wie Herbert. Bäuchlings! Es dauert verdammt lange, bis endlich ein Mann ins Wasser steigt und sie umdreht. Ihre Freundinnen kreischen, der Mann drückt mal hier und mal da, horcht an ihrer Brust und schüttelt dann den Kopf. »Ich nehme an, Schädelbasisbruch«, sagt er, als verstünde er etwas davon. Ich habe keine Ahnung, was damit gemeint ist.
»So muss auch der Mann gestern zu Tode gekommen sein!«, höre ich eine Stimme und habe mit einem Mal das Gefühl, das es besser ist, mich zu verdrücken. Am besten ziemlich schnell, ehe jemand auf meine Leine tritt und mich stoppt, so wie das stachelige Gebüsch am Schiffchenteich.
Ich renne los, so schnell ich kann.
Zu Moni!
Jetzt ist es mir egal, dass sie behauptet hat, Herbert habe sie mehr geliebt als mich. Moni war immer gut zu mir, dass sie Herbert auf dem Gewissen hat, kann ich nicht mehr glauben. Und Thea mit den lila Haaren? So zu Tode gekommen wie Herbert? Das verstehe, wer will.
Ich jage die Straße hinab, die Leine flattert hinter mir her. Jetzt aber so schnell es geht zu Moni! Da Frau Sönksens Schwarz-Weiß-Gebäck verzehrt ist, wird es mir bei Moni am besten gehen. Sie wird mir hoffentlich die Leine vom Halsband lösen.
Sonst passiert am Ende noch ein Unglück …
Rietwurm*
von Till Raether
Aktennotiz: Kriminalakte Jansen, Jutta, geb. 27.09.1941 auf Juist, Anlage 23/2 zu Aktenzeichen 23-456-19.01: Handschriftliche Einlassung der Beschuldigten, Beweismittel im Rahmen des kriminalpolizeilichen Ermittlungsverfahrens zum Tötungsdelikt gegen Kleinhans, Theo, geb. 12.03.2009 in Norden, und andere.
Fundort: Nordseeinsel Memmert, D-26571 Juist
Aufnehmender Beamter: PHK Behler, Jürgen, LKA Niedersachsen, Dienstnr. B78 293-56
Nun will ich also Bericht ablegen über meine Kindheit, um zu verstehen, was mit dem kleinen Theo geschah. Rennautos hat er gemocht und Gummibärchen und sein T-Shirt, wo drauf stand: »Brummi wünscht gute Fahrt«, mit einem Lastwagen in Menschengestalt.
Aber ich bin alt geworden bis fast zum Tode, und vielleicht bin ich allein deshalb bereit, an meine Kindheit zu denken und von ihr zu berichten: Weil sie mir, je älter ich werde, immer näher kommt. Alle sind tot, meine Mutter schon seit vielen Jahren. Mein Mann ist gegangen, weil er die Eckenwesen nicht mehr ertragen konnte, im März sind es zehn Jahre, tot ist er inzwischen auch.
Eckenwesen, das Wort ist von meiner Mutter. Ich war ihr ganzer Stolz. Weil ich fast alles war, was sie hatte. Sie hatte nur mich und die Eckenwesen. Und den Kiosk an der Strandpromenade, darum waren die Winter uns lang. Als sie starb, sagte der Pfarrer der Inselkirche: Sie war eine einfache Frau. Womit er wohl meinte: Sie war eine von uns. Aber was ich darin hörte, war etwas anderes, ich hörte: dass sie ungebildet war, keine Rücklagen und nichts aus ihrem Leben gemacht hatte.
Aber einfach? Nein. Sie war der schwierigste Mensch von allen.
Für sie gab es keinen Unterschied zwischen Traum und Wirklichkeit, darum sagte sie, wenn ich in meinem kratzenden Kleid am weißen Küchentisch saß und nach meinem Vater fragte: »Deinen Vater habe ich im Traum gekannt, von ihm nie wieder ein Wort.«
Ich denke, sie meinte: Er kam mit der Fähre und er ging mit der Fähre.
Doch wenn ich dann fragte, woher ich käme, wenn sie ihn doch nur im Traum gekannt hatte, dann schlug sie mich mit der Faust. Als ich auf die Schule am Schoolpad kam, hörte ich, dass andere Eltern mit der flachen Hand schlugen und die Lehrer auch. Meine Mutter nahm immer die Faust. Aber sie liebte mich sehr. Manchmal öffnete sie danach die Faust und zeigte mir, während sie mich in den Arm nahm, dass eine Leckmuschel darin war für mich zum Trost.
Wenn ich mich versteckte vor ihrer Faust, zerrte sie mich aus dem hintersten Winkel und zwang mich in die Küchenbank.
»Allein«, sagte sie, »bist du nur auf der Vogelinsel.«
Memmert, und wenn sie es sagte, klang es wie Memme, und als meinte sie mich damit. Die Vogelinsel wurde bei ihr zum geflügelten Wort: Wenn du allein sein willst, geh zur Vogelinsel.
Bedeuten sollte es: Hier bist du nie allein. Das verstand ich noch nicht. Aber ich wusste, die Vogelinsel war unerreichbar, sichtbar zwar, aber zwei Stunden mit dem flachen Boot durch Sandbänke, Schlickflächen und Wasserläufe, entlang an den Pricken, die den tückischen Fahrweg markieren.
Wie sehr meine Mutter mich liebte, wurde mir klar, als die Eckenwesen zu mir kamen. Ich hatte den Freischwimmer, eine Puppe, die ich im Sommer abends am Strand gefunden hatte, als die Kurgäste in ihren Hotelzimmern waren, und einen dicken Zopf hatte ich, und ich liebte Leckmuscheln und Waldmeister-Brausepulver. Eines Nachts wachte ich auf und spürte, dass jemand in meinem Zimmer war.
»Wenn du in die Schule kommst«, hatte meine Mutter gesagt, »bekommst du dein eigenes Zimmer. Dann bist du ein großes Mädchen. Und ich schlafe im Wohnzimmer, wir bitten Onkel Heini um Geld für ein Schrankbett.«
Ich war stolz, weil ich nun ein großes Mädchen war, aber ich glaube, meine Mutter gab mir das Zimmer, in dem wir all die Jahre zusammen geschlafen hatten, weil sie mich den Eckenwesen überlassen wollte oder umgekehrt, mir die Eckenwesen.
Jemand war also in diesem Zimmer, oder etwas. In der Ecke, die am dunkelsten und von meinem Bett am weitesten entfernt war. Ich lag unter der Decke und dachte nicht daran, mich zu rühren. Damals, in jenem Moment, lernte ich, auf die einzige Art zu atmen, auf die ich heute noch atmen kann. Flacher als flach, sodass man noch lautlos Sauerstoff ziehen kann aus dem kleinsten Rest Luft. Damit einen niemand hört, damit niemand aufmerksam wird darauf, dass es einen gibt.
Aber ich war ja ein Kind. Wer Kinder gesehen hat, weiß, dass sie sich bewegen müssen. Lange stillhalten konnte ich nie. Rietwurm, hat meine Mutter mich genannt, weil ich immer hibbelig war. Jetzt, als die Anwesenheit in der Ecke war, versuchte ich, meinen Atem ganz flach zu machen und mich nicht zu rühren, damit das, was da war, mich nicht bemerkte. Aber ich war eben der Rietwurm, ich musste mich bewegen.
Aber es ging. Ich konnte atmen und die Augäpfel bewegen in ihren Höhlen, zur Dunkelheit, die nichts verriet, in der Zimmerecke, aber es war mir unmöglich, meinem Rumpf, den Armen und den Beinen eine Bewegung abzuringen. Aufspringen und wegrennen, zu meiner Mutter, ohne Rücksicht auf die Faust: Nichts wünschte ich mir sehnlicher in diesem endlosen Moment, aber ich konnte nur atmen und liegen, starr.
Mein Körper war ein Fleischgefängnis. Auch das Wort habe ich später gelernt von meiner Mutter. Es kommt auch aus der Kirche. Gefangen im Fleischgefängnis.