Die List der Schildkröte. Elisabetta Fortunato
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Die Entscheidung war gefallen. Karl-Friedrichs Ergebnisse mussten bis zum Abend warten. Im Notfall würde sie die Nacht durcharbeiten und sich durch die Präsentation schlängeln. Nicht umsonst stammte sie aus einem Land, das die Kunst des arrangiarsi – des sich Zurechtfindens – regelrecht zelebrierte. Ihre Freunde, die zwei Chaoten, würde sie nicht in Stich lassen.
»Al lavoro«, rief sie, »wir haben viel zu tun!«
Am frühen Abend brachte ein Taxi sie nach Hause und es grenzte an ein Wunder, dass sie lebend ankamen. Der Fahrer war durch die Stadt gerast, während er indische Schnulzen sang und sorglos von einer Fahrspur zur anderen wechselte. Ohne ein einziges Mal zu blinken. In der Kronberger Straße öffneten sich statt einer gleich drei Autotüren. Ihre Chefs hatten zwar vorgehabt, sich zum Steuerberater fahren zu lassen, jetzt aber meinten sie, dass ihnen das Risiko einer gebrochenen Hüfte lieber war, als der sichere Tod.
»Das ist deine Chance morgen, nutze sie gut«, sagte Joschka und drückte ihr als Dank für ihre Hilfe eine Flasche Passito di Pantelleria in die Hand. Mit Blick auf die zugeschneite Hofeinfahrt blieb er am Gartentor stehen. Tommaso griff nach ihrem Arm und zusammen staksten sie Richtung Haustür.
Aus der hohen Fensterfront des Kulturvereins im Erdgeschoss ihres Wohnhauses fiel warmes Licht in den verschneiten Vorgarten. Der Schnee, der auf den sonst struppigen Sträuchern lag, war unberührt und sauber und es sah aus, als ob über allem eine Schicht Goldstaub läge. Der bissige Wind vom Morgen war verschwunden, es schneite dicht und lautlos. Giovanna glaubte, Pingpongbälle vom Himmel fallen zu sehen, so groß waren die Flocken. Sie streckte die Zunge aus und versuchte, einzelne davon zu fangen. Das Kalte und Schmelzende beruhigte ihren von der Fahrt überreizten Magen. Mit den Stiefeln begann sie, den Schnee in der Einfahrt aufzuwerfen.
»Piano«, mahnte Tommaso.
Vor der Haustür drückte er sie lange an sich. »Meine liebe Giovanna, danke, dass du uns hilfst. Wieder einmal, muss ich sagen. Ohne dich wird der Verlag nicht mehr derselbe sein.« Er umarmte sie ein zweites Mal, dann drehte er sich um und verschwand mit langsamen Schritten hinter dem Schneevorhang.
Ein alter, trauriger Mann, dachte Giovanna. Ihr Herz verkrampfte sich, obwohl sie vor Freude hätte schreien müssen, denn endlich stand etwas an, worauf sie vier lange Jahre gewartet hatte. Programmleiterin für deutsch-italienische Publikationen. Wie gut sich das anhörte! Nicht in einem politischen Nischenverlag wie InternazionARTE, wo sie als Mädchen für alles gearbeitet hatte, sondern bei Durond, einem renommierten Kunstbuchverlag. Die erste richtige Stelle, seit sie in Deutschland war. Ihr Mann würde staunen, wenn er davon erfuhr. Mit der Schulter drückte sie die schwere Haustür auf, ohne sie aufschließen zu müssen. Wie immer gefror das Schloss bei Kälte und hakte nicht mehr ein.
Vor der eigenen Wohnung stellte sie ihre große Umhängetasche und die Flasche mit dem Dessertwein auf den Boden und suchte nach dem Schlüssel. Jetzt wollte sie sich nur umziehen und gleich zum Professor hochgehen.
Der Schlüsselbund war im Durcheinander der Tasche nicht zu finden. Dafür entdeckte sie eine leere Spritzenverpackung, die leicht im Luftzug des Treppenhauses flatterte. Sie hatte sich zwischen Fußmatte und Haustür verfangen. War Maria die Tüte kaputt gegangen, als sie tagsüber den Müll aus Karl-Friedrichs Wohnung heruntergebracht hatte? Giovanna zog das Papier heraus und wuchtete die volle Tasche auf die Türklinke, da ging ihre Wohnungstür auf.
Toll, wegen Tommaso hast du heute Morgen vergessen, abzuschließen.
Sie griff nach der Flasche und betrat ihre Wohnung.
Zigeuner und Diebe, dass ich nicht lache.
Die wirkliche Gefahr ging von ihm aus, nur wusste es ihr bester Freund nicht.
Wenig später verließ Giovanna ihre Wohnung und stieg zum Professor hoch. Unter dem Arm hatte sie sich die Flasche Passito geklemmt, die sie mit ihm trinken wollte. Von oben hörte sie die Nachbarn vom dritten Stock die Treppe heruntersteigen. Das pensionierte Lehrerpaar spionierte eifrig für die Hausverwaltung, zum Leidwesen der gesamten Hausgemeinschaft. Um ihnen nicht zu begegnen, rannte Giovanna die letzten Stufen hoch, klingelte wie immer zweimal kurz hintereinander und drückte die Klinke zu von Schachts Wohnung. Die Tür war unverschlossen, also war er zu Hause.
»Karl-Friedrich, ich bin’s«, rief sie in die dunkle Wohnung, dann ging das Licht im Treppenhaus aus.
Aus der Wohnung strömte warme Luft und trug einen schweren Geruch mit sich. Auf die bekannte Mischung von feuchtem Hundefell und verstaubten Büchern hatte sich eine süßliche Decke gelegt. Sofort wurde ihr schlecht, wie damals, wenn der Großvater sie in den Keller rief, um sie mit dem Kopf eines frisch geschlachteten Schweins zu erschrecken.
Bevor sie die Türklinke loslassen und einen Schritt zurücktreten konnte, ging das Licht im Treppenhaus wieder an und warf einen hellen Streifen in die Wohnung. Direkt auf einen Fuß, der hinter der Tür des Arbeitszimmers hervorlugte. Mephistos in Größe 45, sie musste nicht zweimal hinschauen.
»Prof…«
Eine schwere Hand legte sich auf ihre Schulter. Giovanna schrie erschrocken auf. Mit dem Ellenbogen schlug sie nach hinten, drehte sich um die eigene Achse und zog das Knie hoch. Vor ihr ging Herr Burkhardt, der pensionierte Lehrer, zu Boden. Die Flasche flutschte unter ihrem Arm heraus und zerbarst auf dem Steinboden. Giovannas Hausschuhe und Hosenbeine sogen sich mit dem Passito voll.
»Martin!«, kreischte Frau Burckhardt.
»Karl-Friedrich!«, rief Giovanna.
Herr Burckhardt würgte und übergab sich. Von irgendwo in der Wohnung kam ein Winseln.
»Professore?«, rief sie noch einmal. Sein Fuß bewegte sich nicht.
Eine Unterzuckerung! Wieder einmal.
Giovannas Verstand schaltete sofort auf Erste Hilfe um. Sie wusste, was sie zu tun hatte, und sie musste es schnell tun. Doch einer Furie gleich, krallte sich Frau Burkhardt in ihren Arm und hielt sie zurück. Ihr Mann, grau im Gesicht, zog sich ächzend an der Wand hoch, die Hände auf seine Brust gepresst.
»Einen Arzt«, röchelte er, »einen Arzt.«
»Hallo?«, rief eine Frau vom Kulturverein im Erdgeschoss. »Ist alles in Ordnung?«
»Wählen Sie den Notruf und sagen Sie, dass ein schwer Diabeteskranker im Zuckerkoma liegt!«
Sie musste zu Karl-Friedrich, doch die Frau ließ sich nicht abschütteln. Erst als sie ihr fest in den Arm kniff, lockerte sich der Griff. Giovanna drehte sich um, stieg über Pfütze und Glasscherben und betrat die Wohnung.
Auf zittrigen Beinen lief Giovanna direkt in die Küche. Die vollgesogenen Hausschuhe schmatzten bei jedem Schritt wie ein nasser Schwamm. Immer stärker stank es nach altem Hundefutter und Exkrementen. Giovanna hielt die Luft an. In der Küche zog sie die Schublade für Notfälle auf, entnahm ein paar Tütchen Traubenzucker und eine Cola. Es war nicht das erste Mal, dass von Schacht die sich anbahnende Unterzuckerung nicht rechtzeitig bemerkte und zu spät spritzte. Schon fast an der Tür, entdeckte sie auf der Küchenablage