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»Trink, Karl-Friedrich.«
Die Flüssigkeit floss wie ein schmutziges Rinnsal von seinen Mundwinkeln über sein Kinn und nässte ihre Hose. Sie stellte die Flasche ab. Noch während sie hektisch ein Tütchen aufriss, hielt sie inne, und schaute sich ihren Nachbarn genauer an. Sie hatte genug Totenwachen gehalten, um zu erkennen, dass er nicht mehr lebte. Voller Verzweiflung schüttelte sie den liegenden Körper.
Cazzo, Professore, konntest du nicht besser aufpassen?!
Giovanna ließ sich auf den Boden sinken und lehnte sich gegen den Schreibtisch. Ihre Beine schienen aus Gummi, sie glaubte nicht, dass sie sie jetzt tragen würden. Sie betrachtete den Verstorbenen. Von Schacht trug noch den Anzug vom Vorabend, den für besondere Anlässe. Die weiße Mähne, die er immer hingebungsvoll gepflegt hatte, war zerzaust und dort, wo der Kopf auf dem Boden lag, dunkel und verklebt. Ein Arm lag angewinkelt unter dem Oberkörper, der andere ausgestreckt über dem untersten Regalboden der Bücherwand. Giovanna folgte dessen Linie und hob den Blick. Vor ihr standen seine geliebten Bücher und die roten Buchstützen, die sie ihm zur Eröffnung der Ausstellung geschenkt hatte. Alpha und Omega, Anfang und Ende, eine Parabel auf seine größte Entdeckung, wie er gleich selbst bemerkt hatte.
Alpha und Omega, Alpha und Omega, wiederholte sie wie eine Beschwörung, als wolle sie die Schlange der Trauer in Trance versetzen.
Doch ein Misston torpedierte ihre Bemühungen. Sie schaute genauer hin und sah, dass die Stützen verkehrt herum standen. Omega und Alpha. Ende und Anfang. Auf allen vieren krabbelte sie zum Regal und stellte sie um. Wenn Karl-Friedrich etwas nicht ausstehen konnte, dann Unordnung in seiner Bücherwand.
Zuerst tauchten die Sanitäter auf, gleich darauf der Notarzt, später die Polizei. Giovanna hatte Platz gemacht. Von der Türschwelle aus beobachtete sie das Tun. Sie stand im Luftzug und fröstelte ohne Jacke. Die Wohnungstür stand offen. Herr Burkhardt saß noch immer vornübergebeugt auf dem Boden, während seine Frau und die Angestellte aus dem Kulturverein am Treppengeländer lehnten und miteinander flüsterten.
Als endgültig feststand, dass der Professor nicht mehr wiederzubeleben war, erhob sich einer der Sanitäter und ging hinaus, um sich um den pensionierten Lehrer zu kümmern. Ab und zu wandte sich der pausbäckige Mann zu ihr um. Giovanna wurde klar, dass er gerade eine ungeschönte Version ihrer Attacke auf Herrn Burkhardt zu hören bekam.
Der Notarzt gesellte sich zu ihr und erkundigte sich nach von Schachts Vorerkrankungen. Dann nach seinem Hausarzt. Während des Gesprächs musste sie sich zwingen, nicht auf etwas Grünes zu starren, das zwischen seinen Zähnen steckte. Ein klägliches Jaulen ließ alle Umstehenden auffahren. So ein Mist, sie hatte Barni, von Schachts dreißig Kilo schweren Golden Retriever, vergessen! Sie entschuldigte sich beim Arzt und mit einem Beamten machte sie sich auf die Suche nach dem Tier.
Der Hund lag schlapp in seinem Korb. Als er sie sah, wedelte er kurz mit dem Schwanz, sprang aber nicht auf wie sonst, um sie freudig zu begrüßen. Breitbeinig stellte sich der junge Polizist vor den Hundekorb.
»Was ist mit ihm?«
»Keine Ahnung«, antwortete sie. »Aber mir scheint, dass es ihm nicht gut geht.«
Der Mann beugte sich forsch über das Tier und wollte es am Halsband packen, doch Barni japste auf und schnappte nach seiner Hand. Erschrocken wich der Beamte zurück und verließ die Küche.
»Und der Hund?«, rief sie ihm hinterher.
Sie erhielt keine Antwort.
Giovanna bückte sich und begann einfach den Hundekorb – mitsamt Barni –, in die Diele zu schieben.
Die Bestatter kamen als Letzte: zwei Männer in dunklen Jacken und mit einem grauen Sarg. Die Frau vom Kulturverein begann zu weinen. Während die Neuankömmlinge den Leichnam für den Abtransport vorbereiteten, suchte Giovanna Barnis Sachen. Sie hatte Tommaso angerufen und gebeten, sie abzuholen. Der Hund musste in die Tierklinik.
Vor dem Fenster im Treppenhaus umarmte sie die Frau vom Kulturverein, bevor diese ins Erdgeschoss zurückkehrte. Die Nachbarhäuser leuchteten in regelmäßigen Abständen blau auf, als der Krankenwagen mit Herrn Burkhardt wegfuhr. Weder er noch seine Frau hatten sich von ihr verabschiedet. Verdacht auf Rippenbruch, glaubte sie, gehört zu haben. Wie spät es wohl war?
Endlich verließen die Bestatter die Wohnung und begannen vorsichtig, die Treppe hinunterzusteigen. Giovanna drückte sich gegen die Wand. Sie wollte eine Hand auf den Sargdeckel legen, tat es dann doch nicht.
Tommaso und Joschka warteten in der Hofeinfahrt neben ihrem alten Renault auf sie. Beide umarmten sie fest und setzten sie mit dem Hund auf die stoffbezogene Rückbank. Alles lief sachlich und gefasst ab, worüber sie in diesem Moment froh war. Im Auto blieb es still. Nach wenigen Metern merkte Giovanna, dass Barni schrecklich stank. An ihm klebte mehr, als sie wissen wollte. Ihre zwei Freunde verloren kein Wort darüber. Auch wenn sie auf der Fahrt in die Tierklinik fast erfroren, weil in dieser Winternacht alle Fenster offenblieben.
»Wisst ihr was, ich koche uns was«, verkündete Joschka.
Tommaso und Giovanna schreckten auf. »Nein!«, riefen sie gleichzeitig.
»Und wieso nicht?« Sofort rötete sich Joschkas Gesicht.
Ein heikler Moment, den Tommaso gekonnt umschiffte. »Weil du zuerst das Gästebett beziehst und dich dann zu Giovanna aufs Sofa setzt. Da wirst du mehr gebraucht als in der Küche.«
Zufrieden über die Antwort trottete Joschka davon. Giovanna und Tommaso seufzten erleichtert.
Giovanna lag frisch geduscht auf dem Sofa. Von der Tierklinik, wo sie Barni auf Rat des Arztes über Nacht gelassen hatte, waren sie direkt in die Leipziger Straße gefahren. Dass sie bei ihren Freunden übernachten würde, stand außer Frage. Nun schaute sie zu, wie Tommaso, eine Zigarette im Mundwinkel, in der Küche die Vorräte studierte. Sie beide kamen aus Süditalien und es war nur natürlich, dass auch er in dieser schrecklichen Situation gut essen wollte.
Es gab tatsächlich Menschen, die nur aßen, wenn es ihnen gut ging. Warum eigentlich, fragte sie sich dann, Essen ist doch zum Trösten da. Sie zum Beispiel hatte von ihrer nonna immer etwas bekommen, wenn sie sich wieder einmal mit ihrer Mutter gestritten hatte. Manchmal, wenn sie im Stall ein warmes Ei fand, war es eine frisch aufgeschlagene Zabaione, manchmal ein in warme Tomatensoße getunktes Stück Brot, oft nur eine getrocknete Feige. Das alles begleitet von einem einzigen, liebevollen Streicheln über den Kopf. Nicht mehr und nicht weniger, aber Giovanna hatte es nach dem Tod ihrer Oma mehr als einmal vermisst.
»Ich mache uns spaghetti aglio e olio«, rief Tommaso aus der Küche.
»Und ich öffne uns einen Jahrgangswein«, kam es aus dem Gästezimmer. »Die Niederschlagung der Burkhardts muss gefeiert werden.«
Giovanna wollte sofort protestieren, doch Tommasos Mundwinkel zuckten und er fing an zu glucksen, angesteckt von Joschka, der kichernd ins Wohnzimmer zurückkam. Ihr Blick ging von einem zum andern, dann ließ sie sich mitreißen. Sie lachte und weinte gleichzeitig, es wollte nicht mehr aufhören. So entlud sich der Schock, der sie hatte erstarren lassen, und nach den Spaghetti, selbstverständlich von edlen Flüssigkeiten gebührend begleitet, erzählte sie den beiden, was genau passiert war.