Versehrte Seelen. Gabriele Keiser
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Es war eine Walther P99. Sie nahm sie in die Hand. Strich über das schwarze Metall. Etwas ungewohnt fühlte sie sich an. Ihre Berliner Dienstwaffe war eine SIG Sauer P225 gewesen. Sie würde baldmöglichst zum Schießkino gehen müssen, um sich mit der Handhabung der neuen Waffe vertraut zu machen.
Sie legte die Pistole zurück auf den Schreibtisch und sah sich in ihrem Büro um. Ein kleiner Raum, kaum zehn Quadratmeter, etwas größer als eine Gefängniszelle. Immerhin eine Einzelzelle. Überschaubar, funktionell, schmucklos. Die einzige Dekoration bestand bisher aus einem Monatskalender an der Wand mit Fotos von Berlin, den sie aufgehängt hatte. Ein bisschen alte Heimat in ihrer neuen Wirkungsstätte.
Helena hatte auf einem eigenen Büro bestanden, die allzu große Nähe anderer Menschen machte sie nervös. Sie betrachtete die Dinge lieber aus der Distanz: Sachen, Fälle, Menschen. Mit dieser Haltung kam sie ganz gut klar, auch wenn sie öfter befremdliche Blicke trafen, wenn sie diese Einstellung laut äußerte.
Sie fuhr den Computer hoch. Packte die wenigen Gegenstände aus, die sich in einem mitgebrachten Karton befanden und räumte sie ein. Den lachenden Buddha, der sie ein wenig an ihren neuen Chef erinnerte, stellte sie auf den Schreibtisch. Dabei streifte sie die Walther. Sie nahm die Pistole und legte sie in die untere verschließbare Schublade ihres Schreibtischs.
Was beim Friseur der Kamm ist, ist beim Polizisten die Waffe. Diese Weisheit hatte einer ihrer Ausbilder gern mit glänzenden Augen von sich gegeben. Sie hatte nicht widersprochen, obwohl ihr eine entsprechende Antwort auf der Zunge lag. Das wunderte sie noch heute.
This is my rifle, this is my gun, one is for killing, the other’s for fun. Ein Lied der Soldaten im Vietnamkrieg, das Stanley Kubrick in seinem Film Full Metal Jacket zu neuem Leben erweckt hatte. Rifleman’s Creed, auf YouTube und in ihrem Kopf jederzeit abzurufen, hörte sich an wie eine Liturgie, vorgetragen von zackigen Männern, die sich abwechselnd in den Schritt fassten und ihre Gewehre reckten.
Dass man ein erotisches Verhältnis zu Waffen entwickeln konnte, hatte sie nie verstanden. Dann doch lieber ein erotisches Verhältnis zu dir, Dicker. Sie grinste den lachenden Buddha an.
Im Ablagekörbchen befanden sich einige Infozettel, Broschüren, Hausnachrichten und die Umlaufmappe. Daneben ein Stapel Akten, zum Eingewöhnen, wie ihr Chef mit seinem üblichen Augenzwinkern gesagt hatte.
Sie begann zu lesen. War ja doch allerhand los im kleinen Bonn. Auf dem Flur hörte man hin und wieder gedämpfte Stimmen, Telefonklingeln und Türenklappern. Sonst blieb alles ruhig.
Um die Mittagszeit holte Konrad Wieland sie zum Essen in der Kantine ab. Ein vertrauter Geruch empfing sie. Hier roch es nach Fritierfett und Fertigsoßen, nicht viel anders als in der Berliner Kantine. Ihr Chef stellte sie einigen Kollegen vor, deren Namen sie sofort wieder vergaß.
Wieland bestellte sich Schweinebraten mit Rotkraut und Knödeln, sie begnügte sich mit einem Salat.
»Noch nicht mal einen Nachtisch? Kein Wunder, dass Sie so dünn sind«, meinte er schmunzelnd.
Das hörte sich ja an, als ob er sie für magersüchtig hielt. Dabei brachte sie bei ihren 1,67 Metern immerhin 62 Kilo auf die Waage. Sie verkniff sich eine Antwort und lobte sich innerlich dafür, dass es ihr gelungen war, den Mund zu halten.
Eine halbe Stunde später saß sie wieder in ihrem Büro.
Ihr Telefon klingelte zum ersten Mal. Eine noch ungewohnte Tonfolge. Sie nahm ab.
»Na, wie ist es denn so in Bonn am Rhein, schöne Helena?«, flötete eine rauchige Baritonstimme.
»Chris!«, rief sie freudig aus. Er war der Einzige, der sie ungestraft so nennen durfte. Ihr Lieblingsmensch aus Berlin, den sie am meisten vermisste. »Hier ist der Hund begraben.« Sie lachte.
»Hab ich dir doch gleich gesagt. Wärste mal bei uns geblieben. Alle vermissen dich und fragen nach dir.«
»Das ist schön zu hören.« Sie sah Chris vor sich, seine weichen Züge. Ein Verwandlungskünstler, mal Mann, mal Frau, ganz so wie es zu seiner Stimmung passte. Um seinen sinnlichen Mund und die tiefblauen Augen mit den langen Wimpern beneidete ihn jede Frau. Und wenn er sich aufbrezelte und perfekt gestylt im Glitzerfummel den Po schwang, sah ihm garantiert jeder Mann nach.
Chris, der Paradiesvogel, der auf den ersten Blick äußerst kokett und ein wenig verrucht wirkte, war, wenn man ihn näher kannte, ein loyaler Freund, dem man alles anvertrauen konnte. Auch das Unaussprechliche. Der ein großes Herz und für alles Verständnis hatte. Und einen Drang zur grenzenlosen Offenheit. Vor ihm konnte man einfach keine Geheimnisse haben.
»Chris, du weißt, weshalb ich gehen musste. Gerade du weißt das am allerbesten.«
»Ich hätte dich halt gern dabeigehabt, wenn wir unseren Club eröffnen.« Sie konnte sich seine schlanken Hände vorstellen, die beim Reden immer in Bewegung waren.
»Seid ihr schon so weit?«, fragte sie.
»Ein bisschen dauert es schon noch, ein paar Wochen vielleicht. Wenn alles gut geht. Ist noch ’ne Menge zu tun. Aber du, wir haben eine neue Diseuse aufgetan. Eine Stimme, so ein bisschen wie Romy Haag, ganz nah dran am Leben. Die würde dir auch gefallen.«
Sie sah alles lebhaft vor sich: Den Glitzer, den Glamour, diese Alternativwelt, zu der sie sich bisweilen stark hingezogen fühlte und die in Berlin einen Gegenpol zu ihrer seriösen Arbeit dargestellt hatte.
»Kann sie auch das ›Blaue Klavier‹?«
»Natürlich! Willst du mal hören? Warte, ich spiel’s dir vor.«
… Und der Wind singt mir ein Lied. Von Meer und Sand in den Haaren. Von Heimkehr und Abschied …« Etwas verzerrt klang die Stimme einer Sängerin mit tiefer Stimme aus dem Telefonhörer. »Wenn die Wunden längst verheilt sind, tun die Narben weh. Du brauchst dein ganzes Leben, um die Kindheit zu verstehn …«
Wilde Sehnsucht pochte in ihrer Brust. Sie atmete tief durch. »Ich will sehen, was sich machen lässt, Berlin ist ja nicht aus der Welt. Und diese Sängerin würde ich sehr gern live hören.«
Als sie nach einer Weile auflegte, umspielte ein Lächeln ihre Lippen. Ein Anruf von Chris, und die Welt war in Ordnung. So einfach waren die Dinge manchmal.
Heute Abend würde sie die CD von Rosenstolz auflegen. Die ältere mit den verrückten, zweideutigen Liedern, die Anna und Peter oft vor kleinem Publikum performt hatten und für die sie nicht selten ausgebuht worden waren. Aber sie hatten unbeirrt ihr Ding weitergemacht, bis sie schließlich als das erfolgreichste Pop-Duo Deutschlands gefeiert wurden. Doch Helena gefielen die alten Lieder besser. Die neuen waren ihr zu kommerziell und angepasst.
Sie freute sich auf den Abend. Da würde sie in dieser Musik schwelgen und von Berlin träumen. Denn träumen durfte sie, das konnte ihr niemand verbieten.
Bonn, Venusberg
2. Kapitel
Heribert Blankenhain steckte den Brief zurück in den Umschlag und blieb eine Weile regungslos sitzen. In seinem Kopf formierten sich Bilder, die er nicht sehen wollte. Gedanken, die er nicht denken wollte. Etwas Bedrohliches machte sich in ihm breit, das ihm auf die Brust drückte.
Dann sagte er sich: Nein, sowas macht mir keine Angst. Sowas doch nicht. Als er aufstand, spürte er einen