Versehrte Seelen. Gabriele Keiser
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Draußen flimmerte die Luft. Ein leichter Sommerwind bewegte die Blätter der Bäume, die das abschüssige Grundstück begrenzten. Entferntes Kinderjuchzen war zu hören, begleitet von Wasserplantschen, ein Geräusch, das ihn an eine lange zurückliegende Zeit erinnerte. Tief atmete er ein und versuchte, seinen heftigen Herzschlag zu beruhigen. Er vernahm einen schwachen Blütenduft, den er jedoch nicht näher zu bestimmen vermochte. Dort unten hinter Dächern und Baumkronen lag die Stadt, seine Stadt. Die er mit einem Mal mit ganz anderen Augen betrachtete.
Er schüttelte den Kopf, gab sich einen Ruck und ging zurück an den Schreibtisch. Während er seinen Füllfederhalter aufschraubte, glitt sein Blick über den Briefumschlag hinweg zu dem blauen Schnellhefter voller eng bedruckter Blätter, mit deren Korrektur er beschäftigt war.
Es war merkwürdig, das eigene Leben ausgebreitet auf einer begrenzten Anzahl von Papierseiten vor sich zu sehen und immer wieder festzustellen, welch kompliziertes Geflecht dieses Leben war, das aus unendlich vielen wechselseitigen Bezügen bestand. Besonders jetzt nach der Lektüre dieses Briefes musste er sich eingestehen: Es war unmöglich, alles zu erzählen. Vielmehr galt es, einzelne Augenblicke zu isolieren, diese aus der Rückschau zu beleuchten und in einen zeitlich relevanten Zusammenhang zu bringen.
Noch einmal besah er sich das überarbeitete Kapitel, in dem er versucht hatte, die falsch klingenden Worte durch richtige zu ersetzen, doch es schien noch immer zu vieles verkehrt. Er suchte nach anderen, nach adäquateren Ausdrücken, die die Dinge konkreter benannten.
Die Glocken der Heilig Geist-Kirche begannen zu läuten. Schon sechs Uhr. Er war so sehr in seine Arbeit vertieft gewesen, dass er gar nicht merkte, wie die Zeit verging.
Das Glockengeläut strukturierte die zerfließende Zeit, gebot Einhalt und war normalerweise eine gute Orientierungshilfe. Das hatte er verinnerlicht, jedoch in letzter Zeit überfiel ihn nicht selten der Drang, sich dagegenzustemmen und die Zeit aufzuhalten. Nichts mehr sollte sich verändern, alles sollte so bleiben wie es war. Das verlieh ihm Sicherheit.
Im Zimmer war es drückend warm. Auf seiner Stirn hatten sich Schweißperlen gebildet, die er mit einer trägen Bewegung wegwischte. Das Unterhemd klebte am Körper wie eine zweite Haut. Ein einzelner Schweißtropfen kroch seinen Arm entlang und verfing sich im aufgekrempelten Hemdsärmel. All das mochte er gar nicht. Weil es ihm ein Gefühl von Ungepflegtheit vermittelte.
Das Telefon klingelte. Er nahm ab. Nannte seinen Namen.
Hörte jemanden atmen.
»Hallo. Wer ist da?«, fragte er ungehalten. »Hallo? So sprechen Sie endlich. Hallo?« Doch die Verbindung war bereits abgebrochen.
Da war ein Stechen in seiner Brust. Etwas Undefinierbares schien sich eng und enger um seinen Oberkörper zu schnüren. Obwohl er alles tat, die diffuse Bedrohung zurückzudrängen, die er seit dem Erhalt des Briefes verspürte, kam er kaum dagegen an. Er schluckte heftig. Sein Hals fühlte sich ausgetrocknet an.
In der Küche schenkte er sich ein Glas Wasser ein, das er mit hastigen Schlucken trank und der kühlen Flüssigkeit nachspürte, die durch seine Kehle rann.
Er zwang seine Gedanken in eine andere Richtung. All die großen und kleinen Freuden, die sein Leben reich gemacht hatten, daran wollte er sich erinnern. Da gab es einiges, was nicht in seine offiziellen Memoiren gehörte. Jeder Mensch hatte schließlich seine Geheimnisse. Aber er war sich immer treu geblieben. Selbst seine ärgsten Feinde mussten ihm bescheinigen, dass er stets eine klare Linie verfocht und dass man sich auf ihn verlassen konnte.
Harald Juhnkes Lied geisterte durch seinen Kopf. Ein Lied, das er sich immer wieder gern anhörte. In dem er sich wiederfand.
Ich hatte Glück, verdammt viel Glück … I did it my way.
Erleichtert spürte er, wie sich der Druck auf der Brust langsam zu lösen begann. Er hatte alles unter Kontrolle.
Es war gut, mein Leben, sagte er sich, und wandte sich erneut den bedruckten Blättern zu. Aufregend, nicht immer geradlinig, aber erfüllt. Und von so einem Briefeschreiber lass ich mir nicht alles kaputt machen! Ist wahrscheinlich sowieso gelogen, was der mir weismachen will.
Das war bestimmt er vorhin am Telefon. Ja, Blankenhain war sich ziemlich sicher. Feiger Hund! Erst so einen Brief schreiben und dann kneifen.
Erneut nahm er seinen Füllfederhalter zur Hand. Die gelebte Zeit noch einmal Revue passieren lassen bedeutete unweigerlich, etliches umzudeuten. Keinem Leser war zuzumuten, was in subjektiven Wahrnehmungen unmittelbar niedergeschrieben worden war. Aus der Vergangenheit heraus war vieles anders zu interpretieren als im Moment der Gegenwart. Und manches war auch zu privat für die Öffentlichkeit. Es gab nun mal Dinge, die niemanden etwas angingen. Hatte nicht jeder irgendwo tief im Keller eine Leiche vergraben? Die große Linie musste stimmen, die Essenz, das war wichtig. Diese herauszuarbeiten war sein Ziel.
Kurz kam ihm in den Sinn, was mit seinen Tagebüchern geschehen würde, wenn er nicht mehr war. Würden sie irgendjemanden interessieren? Oder würden sie in einem Müllcontainer verschwinden? Das war vielleicht sogar besser so. Doch insgeheim hoffte er, dass Monika sie in wohlmeinende Hände abgab. Eine der großen Bibliotheken, das konnte er sich gut vorstellen.
Blankenhain war vielleicht nicht der geborene Familienmensch. Doch seine Kinder und seine Frauen hatte er stets als wichtig erachtet. Es freute ihn sehr, dass er in der letzten Zeit einen engeren Kontakt zu seiner Tochter gefunden hatte. Mit ihr zusammen war er dabei, sein Leben zu rekonstruieren, vielmehr sprach er in ihrer Gegenwart auf Band und sie tippte das Erzählte anschließend ab. Er konnte nicht gut mit einem Computer umgehen und wollte dies auf seine alten Tage auch nicht mehr lernen. Monika machte das gern, das hatte sie ihm wiederholt bestätigt.
»Das ist ja auch für mich interessant, dein Leben, Papa. Gerade weil ich so wenig von dir weiß. Und so wenig von dir hatte als Kind.«
Den leicht bitteren Ton wollte er nicht hören. Obwohl er ihn durchaus wahrgenommen hatte. Es stimmte schon, er hatte nie viel Zeit für seine Kinder gehabt. Seine Tage waren randvoll gefüllt gewesen mit wichtigen Aufgaben, wie sollte man sich da angemessen um die Belange kleiner Menschlein kümmern. Seine Frauen hatten ihm immer den Rücken frei gehalten. Das war eben das Los aller Politikerehen.
Monika, seine Jüngste, schien ihn am besten zu verstehen. Besser als seine beiden Söhne. Zumindest wusste sie, wie man ihn nehmen musste. Sicher, er war kein einfacher Mensch, das gab er unverhohlen zu. Gerade ihre letzte Begegnung hatte wieder einmal einen heftigen Disput zur Folge gehabt, was ihm im Nachhinein leid tat. Vielleicht hatte er doch zu heftig reagiert. Dass sie seine Reaktion als äußerst unangebracht empfand, hatte sie ihm unmissverständlich klargemacht.
Ihm war klar, dass er polarisierte. Das war eben seine Natur. Und wer kam schon gegen seine Natur an? In seiner aktiven Zeit war er stets für deutliche Ansagen gewesen. Auch wenn ihm das viele übelnahmen. Aber das Nettigkeitsgesabbel der ehemaligen Kollegen war absolut nicht sein Ding. Weder im Beruf noch zu Hause. Manchmal, in stillen Momenten kam ihm in den Sinn, dass sich seine Söhne vielleicht deshalb so distanziert verhielten. Von Walter, der als Arzt in Hamburg lebte, erhielt er hin und wieder eine Karte, zum Geburtstag oder zu Weihnachten. Ernst, dessen jüngerer Bruder, hatte sich schon lange nicht mehr gemeldet. Aber der war von jeher das Sorgenkind gewesen. Vom Studieren hielt er nichts, nur vom Demonstrieren und vom Hausbesetzen. Eine Haltung, die vollkommen konträr zu der politischen Marschrichtung seines Vaters stand und die er stets lautstark missbilligt hatte. Was er Ernst mehr als deutlich zu verstehen gegeben hatte. Und seine Frauen … ach