Versehrte Seelen. Gabriele Keiser

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Versehrte Seelen - Gabriele Keiser

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und »Ballastexistenzen« vorkamen, die man »ausmerzen« müsse. Auch von »Auslöschungsakten« war die Rede. Begriffe, die zum damaligen offiziellen Sprachgebrauch gehörten und an denen sich offenbar niemand störte. Immerhin ging es hier um Menschenleben. Sie hatte redlich versucht, sich in diese Denkweise hineinzuversetzen, doch sie war immer wieder an Grenzen gestoßen.

      »Euthanasie« war eine aus dem Griechischen stammende Bezeichnung und bedeutete ursprünglich einen guten, angenehmen und leichten Tod, jedoch die Nazis hatten dieses Wort für ihre Zwecke umgedeutet und ihm eine schlimme, eine furchtbare Bedeutung verliehen. Hilflose Kinder waren nach fragwürdigen Diagnosen aussortiert und getötet worden – und niemand gebot Einhalt. Gab es Schlimmeres?

      Seit sie wusste, dass ihre Schule damit in irgendeiner Verbindung stand, war sie bestrebt, den Dingen weiter auf den Grund zu gehen.

      Es war nicht allzu schwer gewesen, herauszufinden, dass die gesuchten Akten in einer der Kammern auf dem Dachboden zu finden sein müssten.

      Sie erbat sich die Schlüssel vom Hausmeister und stieg die Treppen nach oben bis unters Dach, dorthin, wohin sich normalerweise kein Mensch verirrte. Etliche der oberen Räume standen leer. In manchen fanden sich einige ausgediente Möbelstücke. Metallbetten mit dreiteiligen, durchgelegenen und verfleckten Matratzen zeugten davon, dass hier einstmals Schlafzimmer untergebracht waren. Fadenscheinige Vorhänge hingen an Fetzen herunter. Auf wackeligen Holzschemeln standen abgeplatzte Emailleschüsseln, offenbar frühere Waschgelegenheiten. Fließend Wasser gab es hier oben nicht.

      Schließlich hatte sie das Archiv gefunden.

      Ein Gefühl von Unwirklichkeit umgab sie, als sie nun etwas ratlos in einem riesigen verwinkelten Raum voller verstaubter und von Spinnweben durchzogener Regale stand, die mit ausgeblichenen grauen Kartons und Schriftstücken jeglicher Art überladen waren. Durch die blinden Fenster drang ein diffuses Licht. Die Luft roch muffig. Hier oben war offensichtlich schon Jahre niemand mehr gewesen. Sie lief an Regalen voller Schuber und aufeinandergestapelter Ordner entlang und wusste nicht, wo in diesem Sammelsurium sie zu suchen anfangen sollte. Ein wenig hatte sie auch Angst davor, auf was sie da womöglich stoßen könnte.

      Um sie herum tanzten Staubteilchen und sie musste husten, als sie den erstbesten Pappkarton herauszog, den Deckel öffnete und hineinsah.

      Akten aus der Nachkriegszeit befanden sich darin. Eine der an den Ecken abgestoßenen beigen Meldekarten wies als Einweisungsdatum den Januar 1962 auf. Die Unterlagen aus der Nazizeit mussten folglich woanders lagern. Sie schob den Karton zurück ins Regal.

      Beim genaueren Hinsehen sah sie ab und an Vermerke, die auf Jahreszahlen hindeuteten. Doch sehr geordnet schien das alles nicht zu sein. Einzelfallakten mit persönlichen Angaben und Berichten lagen neben Sammelakten, offenbar nach dem Zufallsprinzip archiviert.

      Sie begann zu schwitzen. Hier auf diesem Dachboden war es unerträglich heiß. Sie ging in die Hocke und zog aus dem unteren Regalboden einen Schuber heraus. Auf dem bräunlich verblichenen Kartondeckel war mit Frakturschrift ein Name vermerkt. Staub flog auf, der in der Nase kitzelte. Sie schlug die zuoberst liegende Akte auf. Auf der ersten Seite die üblichen Nazi-Insignien: Hakenkreuz und Reichsadler. Auf bröseligem, vergilbtem Papier standen Namen, Geburtsort und Geburtsdatum eines Jungen, der 1941 geboren war. Dahinter war eine Nummer vermerkt. Als Dreijähriger war er in das Kinderheim Hollsteinhof eingewiesen worden. Kopfschüttelnd las sie einen Antrag auf Pflegschaft, der abgelehnt wurde, da das Kind geistig nicht gesund sei und als minderbegabt angesehen werden müsse. Deshalb sei es nicht vermittelbar.

      Es war eine dünne Akte. Als Todesdatum war der 14. April 1944 vermerkt. Todesursache: »Lungenentzündung«. Er war auf der Krankenstation des Heims verstorben.

      Sie nahm eine weitere Akte zur Hand. Dieser Junge war bei seiner Einweisung etwas älter gewesen. Auf dünnen Durchschlägen mit der Schreibmaschine getippt wurde über die Entwicklung des Kindes und angeordnete Erziehungsmaßnahmen berichtet. Von Umerziehung war die Rede und von einem angeforderten Ariernachweis. Dazwischen viel handgeschriebener Schriftverkehr. Gestorben war er im Mai 1944. Auch seine Todesursache lautete »Lungenentzündung«. Ähnliches fand sich auch in den anderen Akten, die sie durchblätterte.

      Ihre Kehle wurde eng. Der Student hatte die Wahrheit gesagt! Aber Beweise für herbeigeführte Tötungen fanden sich nicht.

      Ein muffiger Geruch entströmte all diesen Akten, die sie nacheinander aufschlug. Zusammengepappte, vom Alter verkrustete Seiten trennte sie vorsichtig voneinander. Manche Blätter trugen deutliche Spuren von Silberfischchen.

      Sie suchte weiter, las Namen und persönliche Angaben der sogenannten Zöglinge oder Pfleglinge. Jeweils mit Aktenzeichen versehen. Da waren neben Amtsschreiben im schönsten Bürokratendeutsch Meldekarten, Geburtsurkunden und auch schulische Unterlagen abgeheftet.

      Überall stieß sie auf ähnliche Beschreibungen und Vermerke. Auffallend oft las sie Worte wie »Aussonderung«, »lebensunwert«, »unbildbar«, »arbeitsscheu«. Ab und an war »angeborener Schwachsinn« vermerkt.

      Furchtbar, diese Sprache. Und so entlarvend. Ihr Unbehagen wuchs, je mehr Akten sie zur Hand nahm.

      In einer Mappe befanden sich Schwarz-Weiß-Fotos mit gezackten Rändern, die das ehemalige Hauptgebäude des Hollsteinhofes zeigten, davor wehende Hakenkreuzfahnen. Eine Gruppe Jungen stand vor der hohen Mauer, die Rechte zum Hitlergruß erhoben.

      Auch Broschüren und zugestaubte Bücher lagen in den Regalen.

      In einer Druckschrift waren Aufnahmerichtlinien zur Vorsortierung und Erziehungsprognose von Heimkindern genannt. Psychiater wiesen darauf hin, dass Kinder und Jugendliche häufig erblich vorbelastet seien, deshalb seien im Vorfeld Diagnosen und Prognosen zu stellen, um »kindliche Psychopathen« oder »notorisch vorbelastete Schulschwänzer« auszusortieren. Diese sollten in halbgeschlossene oder ganz geschlossene Abteilungen weitergeleitet werden oder auch in eine »Idiotenanstalt«. Es gelte »durch Sichten und Sieben« die »erbgesunden« herauszufiltern und die anderen in entsprechend dafür geeignete Heime einzuweisen.

      Sie richtete sich auf. Ihr Rücken tat weh. Ihre Augen brannten. Das T-Shirt klebte an ihrem Körper, ihre Kehle war gereizt und sie musste ständig husten. Doch offenbar hatte sie gefunden, wonach der Student suchte. Hier lagen die Nachweise für seine Vermutungen. Aber wie sollte sie all diese Unterlagen sichten? Das konnte sie unmöglich allein schaffen. Vielleicht sollte sie tatsächlich ein Projekt daraus machen. Sie würde es sich nochmal durch den Kopf gehen lassen. Diese Vergangenheit musste aufgearbeitet werden. Unbedingt.

      Bonn, Hollsteinkolleg

       5. Kapitel

      Die hohe Mauer mit den Glasscherben war nicht mehr da. Auch das schwere Eisentor war verschwunden. Überhaupt sah alles viel zugänglicher aus als damals. Der Park war äußerst gepflegt, wofür sicher festangestellte Gärtner sorgten. Die Bäume rings um das Gelände waren hoch gewachsen, die Wege teilweise gekiest, der Springbrunnen mit dem Wasserspeier war neu. Ebenso ein kleiner Pavillon mit verschnörkelten Seitenwänden, an denen weiße Kletterrosen emporrankten.

      Auch das Hauptgebäude hatte sich verändert, ein paar Anbauten waren hinzu gekommen. Mit dem vielen Glas wirkte es wie eine gelungene Kombination von alt und modern, wenn man es nüchtern betrachtete. Lediglich die kleineren Häuser, die darum gruppiert waren, sahen noch genauso aus wie damals. Bimssteinmauern, holzverkleidete Giebel, weiße Fensterrahmen, grüne Klappläden, denen man einen neuen Anstrich verpasst hatte. Auf den schiefergedeckten Dächern wuchsen Moos und Flechten.

      Verträumt und märchenhaft. So hatte das Gelände ursprünglich auf ihn gewirkt. Sein neues Zuhause. Hier kann man sich

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