Versehrte Seelen. Gabriele Keiser
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Das Gespräch mit Paul Behrends ging Henrike Leipold nicht mehr aus dem Kopf. Erziehungswissenschaften und Psychologie habe er studiert und schreibe gerade an seiner Doktorarbeit. Nun benötige er ihre Hilfe. Sie sei doch Lehrerin für Geschichte.
»Hauptsächlich für Deutsch«, hatte sie geantwortet, »und ja, auch für Geschichte. Aber nur im Nebenfach.«
Es ginge um das Thema Heimerziehung. Ungefähr ab dem zweiten Weltkrieg bis in die Anfänge der siebziger Jahre.
Krieg und Nachkriegszeit. Das erschien ihr eine große und unterschiedlich geprägte Zeitspanne für eine Doktorarbeit. »Ich wüsste jetzt nicht, wie ich Ihnen da helfen könnte«, hatte sie etwas ratlos eingeworfen.
»Meine Recherchen haben ergeben, dass es dazu in Ihrer Schule höchstwahrscheinlich Unterlagen gibt.«
»Was für Unterlagen denn? Und warum wenden Sie sich nicht an den Direktor?«, hatte sie überrascht und gleichzeitig etwas abwehrend geantwortet.
Er habe bereits mit dem Direktor gesprochen, versicherte Paul Behrends. »Herr Novak blockt jedes Mal ab und zeigt kein großes Interesse, Licht in diese dunkle Angelegenheit zu bringen.« Obwohl er bereits mehrmals nachgehakt habe, sei er immer wieder vertröstet worden. Deshalb wende er sich jetzt an sie.
Henrike war erst seit einem Jahr Lehrerin am Hollsteinkolleg, ihr war bekannt, dass das Internat auf eine lange und nicht ganz lineare Geschichte zurückblickte. Doch Genaueres dazu wusste sie nicht.
»Ihr Haus hat eine sehr große Bedeutung für meine Recherchen«, sagte der Student eindringlich. »Es war eines der wenigen Kinderheime, das den Krieg unbeschadet überstanden hat.«
»Es ist immer ein christliches Haus gewesen, das früher von Diakonissen geleitet wurde«, sagte sie. »Was wollen Sie denn herausfinden?«
»Nun. Es geht darum, die Rolle der Heime im Kriegs- und Nachkriegs-Deutschland zu untersuchen«, begann er zu erläutern. »Was dort die Regel war, wurde lange Zeit als ein Randphänomen angesehen, nicht weiter bemerkenswert. Aber da liegt einiges im Argen. Das will ich in meiner Dissertation herausarbeiten.«
»Also, dass in unserem Haus was nicht mit rechten Dingen zuging, wie Sie andeuten, kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen«, hatte sie widersprochen. »Das hätte man doch längst herausgefunden. Ständig hört man von runden und eckigen Tischen zu diesem Thema.« Ein leidiges Thema, gewiss. Das man nur allzu lange negiert hatte. Doch erst kürzlich hatte sie von einer Studie gehört, die die Kirche selbst in Auftrag gegeben hatte. An einem katholischen Internat in der Eifel waren über Jahrzehnte hinweg Jungen gequält und missbraucht worden. Doch der Kölner Kardinal war nicht auf Abwehrhaltung gegangen, sondern hatte sich schockiert und bestürzt gezeigt. Man werde alles daransetzen, die Vorfälle lückenlos aufzuarbeiten, hatte er erklärt. Die Opfer waren in aller Form um Vergebung gebeten worden.
»Was wissen Sie denn von der Vergangenheit Ihres Hauses?«, fragte Behrends.
»Nun … äh …«
»Sehen Sie. Wahrscheinlich hat man Ihnen gesagt, dass die kirchliche Leitung des Heims die Garantie dafür bot, bei Ihnen sei alles bestens gewesen. Dieses Argument höre ich leider immer öfter.«
Oh nein, hoffentlich war das nicht so ein Spinner und Quertreiber, die überall nach Ungemach suchten. »Und das Bewusstsein hierfür möchten Sie ändern?« Sie merkte, dass ihre Stimme leicht spöttisch klang. Was ihr augenblicklich leid tat. Aber der Student machte einen reichlich missionarischen Eindruck auf sie. Vielleicht hätte er besser Theologie studieren sollen.
»Ich kann Ihnen versichern, dass ich fast täglich auf Ungeheuerliches stoße. Die Rolle der Kinderheime ist noch lange nicht aufgearbeitet. Auch nicht mehr als siebzig Jahre nach dem Krieg«, sagte er. »Wie heikel das Thema immer noch ist, merkt man ja auch an der Reaktion Ihres Direktors.«
»Und was erwarten Sie von mir?«, fragte sie leicht ungehalten.
»Nun, was ich bis jetzt herausgefunden habe, ist ziemlich schlimm. Und ich nehme mal an, Ihr Direktor möchte ungern an das erinnert werden, was seine Schule mit der damaligen Zeit verbindet. Wie so viele in seiner Lage, leider. Dabei können wir doch nur aus unserer Vergangenheit lernen und es nützt niemandem, wenn wir sie verleugnen.«
»Was meinen Sie denn konkret?«, fragte sie irritiert.
Er zögerte einen Moment. »Ich habe unter anderem herausgefunden, dass mit ziemlicher Sicherheit während des Krieges im Hollsteinhof Tötungen im Rahmen der ›Aktion T4‹ durchgeführt wurden.«
»Was sagen Sie da?«, rief sie entsetzt aus. Ihr Herz begann Blut in ihr Hirn zu pumpen. Der Zeit des Nationalsozialismus mit all seinen Grausamkeiten und Auswüchsen hatte sie sich während des Studiums in besonderem Maße gewidmet. So auch der »Aktion T4«, wie die Nazis ihr »Euthanasieprogramm« bezeichneten, diese unvorstellbare systematische Ausrottung so genannten »unwerten Lebens«. All dies war jedoch sehr weit weg gewesen, war theoretisches Wissen, das an einen anderen Ort und in eine andere Zeit gehörte. Und nun sollte dies so nah gerückt sein, dass sie sich an einem Ort befand, wo solche Verbrechen ausgeführt wurden? Sie konnte es nicht fassen.
»Hauptsächlich war der Hollsteinhof eine so genannte Zwischenanstalt. Die meisten Kinder wurden in die Tötungsanstalt Hadamar weiter transportiert, da war dann Endstation. Aber es gibt Hinweise, dass auch an Ort und Stelle getötet worden ist. Dazu genügte ein Giftcocktail aus Hustensaft und Luminal. Das zumindest haben meine Recherchen ergeben. Als Todesursache wurde dann Lungenentzündung oder sowas Ähnliches angegeben.« Er hielt einen Moment inne. »Sie wussten nichts davon?«
»Nein. Und ich kann das auch nicht glauben. Unsere Schule ist sehr modern …«
»Heute ja«, fiel er ihr ins Wort. »Doch das war nun mal nicht immer so. Aber nicht die Kriegsjahre sind mein eigentliches Thema, sondern die Nachkriegsjahre der so genannten Fürsorgeheime, wie der Hollsteinhof eines war. Nach dem Krieg hatte sich kaum etwas in Bezug auf die Pädagogik geändert. Noch immer lehrte man nach den Prinzipien Gehorchen und Bestrafen. Die Kinder wurden systematisch entrechtet.«
»Das mag ja sein«, räumte sie ein. »Aber ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass dies am Hollsteinhof der Fall war. Das Heim galt als vorbildlich.«
»Sehen Sie. Deshalb wäre es doch wichtig, die Originalakten einzusehen und zu prüfen, ob meine Mutmaßungen stimmen. Und dazu bräuchte ich Ihre Hilfe.«
»Ich habe keine Ahnung, wo diese Akten lagern könnten«, rief sie aus.
»Nun, das dürfte doch nicht allzu schwer herauszufinden sein«, meinte er. »Sie sind vor Ort. Und wenn Sie Ihren Direktor danach fragen, hat das eine andere Gewichtung als wenn ich das tue. Sie können ja einfach behaupten, es handele sich um ein Schülerprojekt. Vielleicht ist er dann mitteilsamer. Wissen Sie, das Schlimme ist, dass meine Recherchen ständig dadurch behindert werden, weil Akten angeblich nicht mehr auffindbar sind. Vieles mag ja tatsächlich vernichtet worden sein, aber ich werde das Gefühl nicht los, dass man meine Forschung absichtlich blockiert.«
Sie schluckte und schwieg.
»So eine schlimme Sache aufzudecken, müsste doch auch in Ihrem Sinne sein«, appellierte er an ihr Gewissen. »Und zwar möglichst, bevor jemand auf die Idee kommt, alles durch den Schredder zu jagen.«
Seitdem wurde Henrike von einer diffusen Beklommenheit beherrscht. Sie hatte