Versehrte Seelen. Gabriele Keiser
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Hinter dem vergitterten Fenster im Erdgeschoss war das Schlafzimmer gewesen. Noch immer schmerzte sein Herz, wenn er an den Freund dachte, der im Bett neben dem seinen schlief. Thomas, der zarte, sensible Junge, der jeden Abend in die Kissen weinte, der so anders war als die anderen und damit ihm selbst so ähnlich.
Erinnerungen flammten auf. Thomas und er, wie sie nebeneinander auf einer blühenden Sommerwiese sitzen, lachend mit selbst geschnittenen Stöckchen herumfuchteln und mit sirrenden Geräuschen Gänseblümchen die Köpfe abschlagen. Es riecht nach frisch geschälter Weidenrinde und nach Sommer, nach Gras und Blüten. Oder Thomas und er tuschelnd in ihren gestreiften Schlafanzügen auf der Bettkante, einander nah wie sich nur gute Freunde sein können, so lange, bis eine herrische Stimme die beiden Jungen auseinandertreibt.
Thomas war der Einzige dort gewesen, der seine Gedanken und Gefühle auch ohne große Worte verstand. Ein richtiger Freund, der ihn niemals verraten hätte. Einer, wie er ihn nie zuvor und auch später nicht mehr kennenlernte. Der nach seinem frühen Tod eine tiefe Lücke hinterlassen hatte, die nie mehr geschlossen werden konnte.
Er griff nach der Zigarettenpackung in der Brusttasche seines Arbeitskittels. Fingerte eine Zigarette heraus, zündete sie mit zittrigen Fingern an. Inhalierte tief. Wie lange war das jetzt her? Vierzig Jahre? Gar schon fünfzig? Sein Zeitgefühl ließ ihn im Stich, wie so oft, wenn er an früher dachte. Vieles hatte er vergessen. Zumindest hatte er dies geglaubt. Doch seit dem Anruf des Studenten stand alles wieder vor ihm, als wäre es gestern gewesen.
Dem Ganzen ein Gesicht geben, hatte er gesagt. Das sind Sie sich und Ihren Kameraden schuldig.
Niemandem bin ich was schuldig! Mit Händen und Füßen hatte er sich gewehrt. Ausblenden, sich taub stellen. Wegdrängen. Das, was damals passiert war, hatte er alles irgendwo in die hinterste Ecke seines Gedächtnisses verbannt, wo es ihn in Ruhe lassen sollte. Doch dieser Student hatte nicht aufgegeben und sich wieder gemeldet, hatte Textpassagen zitiert und alles aufgescheucht, was verschüttet und zugedeckt gewesen war.
Der Rabe auf dem Dach begann laut zu krächzen. Ein Artgenosse antwortete in einiger Entfernung.
Das Gefühl der inneren Zerrissenheit wurde übermächtig. Plötzlich wusste er, dass es falsch war, hierher zu kommen. Kümmerte das wirklich irgendjemanden, was mit ihnen damals geschehen war? Hatte sich in der Zwischenzeit nicht alles verändert? Die Gebäude, die Zeiten, die Menschen? War die Vergangenheit überhaupt noch relevant? War es nicht besser, alles zu belassen, wie es war? Wohin das führte, wenn man allzu tief grub, hatte er doch gerade erst hautnah zu spüren bekommen.
Es war nicht gut. Es war einfach nicht gut.
Sein Blick streifte über die Anlage. Den Namen hatte man abgewandelt. Hollsteinhof war in Hollsteinkolleg umbenannt worden. Das klang vornehmer und unbelastet.
Er stieß heftig den Rauch aus. Im selben Moment kam die Wut zurück. Selbst wenn einiges einen neuen Anstrich bekommen hatte und man ihm neue Namen gab, das Morsche, Zersetzende darunter würde man nicht übertünchen können.
Der schwarze Vogel auf dem Dach schwang seine Flügel, flatterte auf und flog davon. Krähe, wunderliches Tier, schlich sich eine Liedzeile in seinen Kopf. Meinst wohl bald als Beute hier, meinen Leib zu fassen.
Er warf die Zigarettenkippe auf den Boden, drückte sie mit der Schuhspitze in den Kies und wollte weitergehen zum Hauptgebäude. Doch etwas hielt ihn zurück. Seine Füße fühlten sich an wie Blei. Auf seine Schultern drückte eine unsichtbare Last. Sein Herz trommelte. Setzte für Sekundenbruchteile aus, dann trommelte es weiter.
Da öffnete sich das Portal. Kinder drängten heraus. Lachten. Rannten die Treppe hinunter. Schubsten sich. Blieben in Grüppchen stehen. Unterhielten sich. Sie sahen unbeschwert aus.
Völlig anders als wir damals.
Das Gefühl, von aller Welt verlassen zu sein, nahm wieder überhand. Schweißüberströmt, schwer atmend und mit hängenden Schultern schlich er davon.
Bonn, Venusberg
6. Kapitel
Gute Luft, viel Wald und eine schöne Aussicht auf das Siebengebirge, das ist das Erste, was einem zum Venusberg einfällt. Und natürlich die Uni-Kliniken. Deren Gebäudekomplexe befinden sich genau an der Stelle, wo bis zum Kriegsende eine Flak-Kaserne der Wehrmacht stand, benannt nach dem Oberbefehlshaber Hermann Göring – eine historische Gegebenheit, auf die heute niemand mehr stolz ist. So hatte Helenas Chef diesen Bonner Bezirk beschrieben, wo es im Winter immer ein bisschen kälter ist als unten in der Stadt und wo der Schnee länger liegenblieb. Aber jetzt war Sommer und das Thermometer zeigte über dreißig Grad.
»Please be gentle with this heart of mine«, klang es aus dem Autoradio. Helena summte leise mit.
Etliche hochherrschaftliche Villen fielen ihr auf, inmitten weitläufiger Gärten, umgrenzt von exakt geschnittenen Heckenzäunen. Vor einem nüchtern wirkenden Mehrfamilienhaus, das nicht so recht zwischen die weitläufigen Villengrundstücke passen wollte, stellte sie ihr Fahrzeug ab.
Bereits im Flur kroch ihr eine widerlich verdorbene Süße entgegen, die sich auf Zunge und Gaumen legte. Unverkennbar Leichengeruch.
Das Innere der Wohnung überraschte sie. Der großzügig gehaltene Eingangsbereich war geschmackvoll, wenn auch ein wenig überladen eingerichtet. Der Gestank, der ihr jetzt entgegenschlug, war schier unerträglich. Sie versuchte, so flach wie möglich zu atmen und griff nach ihrem Fläschchen mit Japanöl – einem bewährten Mittel gegen Gestank jeglicher Art, das einigermaßen den Verwesungsgeruch überlagerte, den sie, das wusste sie von früheren Einsätzen her, so schnell nicht mehr loswerden würde. Da half nur mehrfaches Duschen, doch irgendwie schien das Gehirn den Geruch zu speichern und ihn auch dann noch abzurufen, wenn man eigentlich nichts mehr riechen konnte.
Die Latexhandschuhe verursachten ein schnalzendes Geräusch, als sie sie überzog, nachdem sie in den weißen Schutzanzug und die blauen Plastikfüßlinge geschlüpft war. Als letztes legte sie den Mundschutz an.
Kollegen in weißen Overalls, von denen sie die meisten noch nicht kannte, wuselten herum. Pinselten, fotografierten, vermaßen, klebten ab, hoben Gegenstände hoch, die sie begutachteten und in Asservatenbeutel steckten. Ihre Bewegungen waren ruhig und routiniert. Einer der Techniker mit einem Clipboard in der Hand signalisierte ihr, dass der Weg für sie frei war.
Mit Sezierblick nahm sie alles um sich herum auf. Die Wohnung wirkte insgesamt sehr gediegen und ordentlich. Eine geräumige Vier-Zimmer-Wohnung, wobei Wohn- und Arbeitszimmer ineinander übergingen und nur andeutungsweise voneinander getrennt waren. Ausgestattet mit etlichen Antiquitäten, die sicher einiges wert waren. Von der Decke hing ein kristallener Kronleuchter. Uhren in interessanten Gehäusen standen auf einem Sideboard. In klobigen Eichenvitrinen befanden sich viele Bücher. Bildbände. Sachbücher. Biografien. Auffallend waren Hermann Hesses gesammelte Werke, daneben standen andere Klassiker, aber auch moderne Literatur, wie sie auf den ersten Blick ausmachen konnte. Alle in edler Ausstattung. Keine billigen Taschenbücher. An den Wänden hingen Stiche von Städten und großformatige Ölbilder.
Im Arbeitszimmer beherrschte ein schwerer Schreibtisch den Raum. Darauf lag ein aufgeschlagener Tischkalender neben einer Stifte-Ablageschale aus Meißner Porzellan. Auffallend war eine altmodische Herrenbrille, die mit offenen Bügeln platziert war, als ob sie jemand vergessen hätte.