Fahlmann. Christopher Ecker
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In seinem Zimmer angekommen erklomm Jens das Etagenbett, ließ die Beine baumeln, ich kippte Schmutzwäsche vom Schreibtischstuhl und rückte ihn so an die Kletterleiter des Betts, dass ich die Füße auf die fünfte Sprosse legen – verfluchter Schnappschuss! Obwohl Jens damals sieben Jahre alt war, ähnelt er in meinen Erinnerungen dem Vierjährigen, dessen Bild ich im Geldbeutel habe; ein Beispiel dafür, wie der einmalige Fingerdruck auf einen Auslöser das ganze Erinnerungsvermögen schachmatt setzen kann. In einem Akt unverzeihlicher Willkür reißt die Fotografie einen strenggenommen völlig bedeutungslosen Moment aus der Zeit, und an diesem bis zum Platzen mit scheinbarer Bedeutung aufgeladenen Augenblick staut sich von nun an der ohnehin unzuverlässig strömende Fluss des Erinnerns. Staut sich, bildet Strudel, und das Wasser fließt nicht mehr weiter, um das versandende Flussbett von Schwebteilchen und Algen zu befreien. Susanne, von der ich kein Bild bei mir habe, sehe ich deutlich vor mir, schmerzhaft deutlich, aber das Gespenst des fotografierten Vierjährigen schiebt sich beständig über meinen damals schon siebenjährigen Sohn. Ich erinnere mich an den launischen Zug um seinen Mund, an seine Art, den Ranzen ins Kinderzimmer zu schleudern, wenn er aus der Schule nach Hause kam, an seine Angewohnheit, mit den Augen zu zwinkern, wenn er sich sehr konzentrierte, doch unter beharrlicherem Zugriff verschwimmt die Gestalt meines Sohns, verflüchtigt sich, wird zu einem Nebelfleck inmitten überdeutlicher Kulissen. Ich glaube, ich mochte den Nebelfleck sehr. Besonders wenn er vor Vergnügen auf der Stelle hüpfte, wie es nur Kinder und Irre können … Ich habe alles falsch gemacht.
Ich stecke mir eine Zigarette an. Weiter! Momentan liegt der verhängnisvolle Schnappschuss neben der schreibenden Hand auf dem messingeingefassten Marmor-Rund des Café-Tischs. Selig sitzt Jens auf einem Kinderfahrrad, das sich mit vor Anstrengung verkrümmten Stützrädern vom Schotter erhebt. Er hat Susannes Augen, meinen Mund, meine unkämmbaren, schwarzen Haare, und das Gesicht – ja, so könnte Großvater als Kind ausgesehen haben. Jens mochte Geschichten. Abends saß ich lange an seinem Bett und erzählte von Curbel Gölmop, einem hummelkleinen Mann im schwarzen Hochzeitsanzug. Curbel kann fliegen. Klemmt er sich dabei ein rotes magisches Plastikeimerchen unter den Arm, wird er unsichtbar. Jens. Was fällt mir noch zu Jens ein? Es bekümmerte mich, dass er irgendwo diese Filme sah; bestimmt bei Florian, dessen Eltern beide berufstätig waren. «Ich habe Angst, dass er verroht!», hatte ich Großvater am Telefon erzählt. «Am liebsten würde ich ihn gar nicht aus dem Haus lassen. Ich lese ihm Die Schatzinsel und Der kleine Hobbit vor, und das gefällt ihm gut, sehr gut sogar, aber dann schaut er sich bei Florian oder irgendeinem anderen Videosüchtigen Actionfilme an, die ab 16 Jahren sind!» Derartige Erziehungsangelegenheiten pflegte ich mit Großvater zu besprechen, ehe ich mit Susanne in den Boxring einer Diskussion stieg und meist verflüchtigten sich meine Bedenken noch während des Gesprächs, denn Großvater sah alles gelassen und arbeitete mit allen Tricks. «Nein», antwortete ich ihm eine Spur zu gereizt. «Es hat mir nicht geschadet, als Kind Gespensterhefte gelesen zu haben, aber es reißt mich nicht gerade zu Begeisterungsstürmen hin, wenn mir mein siebenjähriger Sohn irgendwelchen Unfug über ‹coole Waffen› erzählt! Und um deiner Frage zuvorzukommen: Nein, es hat mir nicht geschadet!»
«Liest du mir Quatschlieder vor?», fragte Jens.
«Gerne.» Ich legte die Füße auf die fünfte Sprosse der Leiter und zog schWEINe-essIG aus dem Regal, wo es in Gesellschaft von Walt Disney’s Lustigen Taschenbüchern bestens aufgehoben war. Jens mochte meine Gedichte. Lachte er darüber, stellte sich bei mir ein nicht uninteressantes Gefühl der Zufriedenheit ein, das Buch veröffentlicht zu haben. Winkler würde das nicht verstehen! Er hatte sich kein einziges Mal zu meinem Gedichtband geäußert und war wohl aus Neid, selbst keinen Verlag für seine exzentrischen Texte voller redender Tassen und beleidigter Kaffeekannen gefunden zu haben, zu keiner meiner Lesungen gekommen, aber das hatten wir ja schon. Hatten wir das schon? Ich weiß es nicht, aber Sie können es nachschlagen. Sie haben ohnehin die besseren Karten. Also spielen Sie damit! Zurück zu Winkler! Wer sich nicht für mich interessierte, würde selbstverständlich nie anvertraut bekommen, wie schWEINe-essIG wirklich entstanden war! So einfach war das! Außerdem musste man vorsichtig sein, was man ihm erzählte, denn er klaute alles, was ihm unter die Finger kam. «Darf ich das haben?», fragte er beiläufig, ein reines Ablenkungsmanöver, denn er hatte längst mit seinem Schmetterlingsnetz ausgeholt und die betreffende Formulierung aus der rauchgeschwängerten Luft des Wohnzimmers gefischt. «Das habe ich schon verwendet», sagte ich. – «Und jetzt gehört es mir», sagte Winkler, der außerdem, wie er mir einmal stolz gestand, alle guten Stellen in Büchern, die er las, für spätere Plünderungsarbeiten mit Kringeln markierte. Ich kannte nicht alle seine Texte, aber in den wenigen, die ich kannte, fanden sich beängstigende Echos unserer Gespräche und, was mich weitaus mehr fuchste, meiner Erzählungen. Natürlich wusste ich, dass ich ihm meine Prosa niemals zeigen dürfte (und schon gar nicht die ersten Kapitel des Romans), doch nach einigen Bieren besiegte die Eitelkeit regelmäßig die Vernunft, und ich erwachte am folgenden Morgen mit der Gewissheit, dass nun meine besten Ideen fröhlichen Einzug in Winklers Geschichten hielten. Vielleicht benannte er sogar eine seiner belebten Tassen nach meinem Helden, stahl mir diesen wunderbaren Namen, ohne den mein Roman blass und farblos wäre. Mit dem Namen raubte man meinem Helden sein Wesen, seine Eigenarten, seinen Charakter, raubte ihm alles, was er besaß, und sollte ich eines Tages herausfinden, dass Winkler mir diesen Namen gestohlen oder einen ähnlichen Namen verwendet hätte, der sich, sagen wir mal, nur durch einen einzigen Buchstaben vom Namen meines Helden unterschiede, würde ich unsere Freundschaft so beiläufig beenden, wie man einem unliebsamen Gast in Mollingers Eck das volle Bierglas mit einem Klaps vom Tisch in den Schoß befördert.
«Was hast du, Papa?»
In der Küche klapperte Susanne mit Töpfen und Pfannen.
«Nichts. Ich denke über Winkler nach.»
«Nicht über Mama?»
«Nein.»
«Was denkst du über Winkler nach?»
«Dass er ein Idiot ist.»
«Wieso ist die Amö… wieso ist Winkler ein Idiot?»
«Er klaut Ideen.»
«Wie kann man Ideen klauen?»
«Aus meinen Geschichten.»
«Darf er das denn?», fragte Jens, und auf einmal sehe ich ihn so vor mir, so, wie er damals aussah, sehe ihn hier im Le Maubeuge (Alexandria) deutlich vor mir, stecke die Fotografie in den Geldbeutel, sehe Jens siebenjährig auf dem Etagenbett sitzen. Sein Gesichtsausdruck imitiert die kumpelhaft freundliche Neugierde eines Erwachsenen, auf den Oberschenkeln hat er das mit Star-Wars-Charakteren bedruckte Kopfkissen, nein! Zu spät! Wieder hat der vierjährige Radfahrer den Siebenjährigen aus den Erinnerungen gedrängt. Mit einer Handpantomime bedeute ich dem Kellner, mir noch einen café serré zu bringen, prompt ertönt ein metallisches Schnäuzen, bestimmt geht es ihm gut, denke ich, Susanne wird schon dafür sorgen, dass es ihm an nichts fehlt, bestimmt geht es ihm gut. Ich weiß noch, wie wir zu dritt vor der Weltkarte standen und über den Titicacasee lachten, oder wie entzückt Jens und Susanne waren, als ich ihnen vom Popocatépetl erzählte. Sie glaubten mir nicht, dass es einen Vulkan dieses Namens gibt. «Polarstern, Polykarp, Popanz, Popmusik, da steht er ja, der Popocatépetl! Na, hab ich jetzt recht – oder was?» Ich stecke mir eine Zigarette an, ein schneidend kalter Windstoß treibt mir die Tränen in die Augen, und ich tauche ein in meine Erinnerungen, tauche tief ein, tiefer und treibe davon, rechts neben meinen hochgelegten Füßen das Schlachtfeld auf Jens’ Nachttisch: Kaugummistreifen, Schokokekse, unverständliches Plastikspielzeug aus Überraschungseiern … «Bist du traurig wegen dem Streit?»
Des Streites, korrigierte ich in Gedanken und sagte: «Nein.»
Aufgeregt: «Ich hab mit Florian heute auch Streit gehabt.»
«Ich