Germanias Vermächtnis. Swen Ennullat
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Carl suchte natürlich einen Weg, seinen Schwager zu befreien und trieb sich deshalb in der Nähe der GIs herum. Er muss sehr schnell bemerkt haben, dass einige höherrangige Soldaten im Besitz von sogenannten Entlassungsscheinen waren, in denen lediglich der Name der freizulassenden Person eingetragen werden musste. Um an ein solches Dokument zu gelangen, wählte er sich auf dem Marktplatz einen jungen Offizier mit weichen Gesichtszügen aus, und über sein zeichnerisches Talent – er bot ihm an, ihn zu porträtieren – konnte er mit ihm in Kontakt treten.“
„Ich vermute, das war Joe Thomas Meador, nicht wahr, mein Liebe?“, dem Professor fiel es wieder einmal schwer, stillschweigend zu lauschen.
„Ja, sein Name war Meador. Sie haben also von ihm gelesen?“
Professor Meinert nickte, und Torben, der sich nebenbei die eine oder andere Notiz gemacht hatte, schloss die Frage an: „Muss mir dieser Name etwas sagen?“
Der Professor blickte in Frieda Kerns Richtung, als wolle er sich die Erlaubnis für seine Antwort holen. Ihren angedeuteten Lidschlag verstand er als Einwilligung und erklärte Torben: „Wir sagten Ihnen doch bereits, dass jeder Historiker die Odyssee des Domschatzes kennt. Meador war für sie verantwortlich!
Er war Oberleutnant des 87. US-Artillerie Bataillons. Er war knapp dreißig Jahre alt, als er ab 1944 in Europa gegen die Nazis kämpfte. Von Bedeutung ist, dass er vor dem Krieg Kunstgeschichte studiert hatte und dadurch, im Gegensatz zu seinen Kameraden, – sagen wir einmal – besonderes Augenmerk auf historische Gebäude und Artefakte legte. Oder, um es anders auszudrücken, er brachte alles, was von Wert sein könnte, in seinen Besitz und schickte es gut gepolstert und sorgfältig verpackt per Feldpost an seine Familie nach Texas, egal ob nun Silberbestecke, Porzellan oder Ölgemälde. Nicht nur einmal wurde er deshalb von seinen Vorgesetzten gerügt. Ich erinnere mich dunkel, dass er deshalb auch vor einem Kriegsgericht gestanden hat. Das hielt ihn natürlich nicht von seinen Beutezügen ab, vielmehr wurde er nur vorsichtiger, darauf bedacht, künftig nicht mehr ertappt zu werden. Und er war selbstverständlich kein Einzelfall. Viele andere alliierte Soldaten taten es ihm überall in Europa gleich. Das ist ganz typisch für Kriege, erinnern Sie sich bitte nur einmal an die US-Invasion im Irak des Sadam Hussein und die Kunstgegenstände, die dort abhandenkamen.
Aber genug davon und zurück zu dem Jungen, von dem Frau Kern gerade sprach. Ihm ist es jedenfalls tatsächlich gelungen, eben diesem Meador einen Entlassungsschein zu entwenden. Der hat es nicht einmal bemerkt. Für ihn war nur wichtig, dass er endlich jemanden gefunden hatte, der sein künstlerisches Interesse teilte oder zumindest ein gewisses Talent für Malerei besaß. Also freundete er sich mit Carl an. Vielleicht war er es sogar, der Meador einen geheimen Zugang zu den Altenburger Höhlen gezeigt hat, in denen der Domschatz einige Jahre zuvor eingelagert worden war. Selbstverständlich hatten die Amerikaner das Versteck schon gefunden, allerdings bewachten sie nur den Haupteingang, weil sie dachten, es gebe nur einen Weg ins Innere.
Meador gelangte aber trotzdem unbemerkt hinein und stahl die wertvollsten zwölf Artefakte der Stiftskirche aus dem Bergstollen. Auch diese schickte er wieder zu seiner Mutter in die Staaten. Als er Monate später selbst nach Hause zurückkehrte, verkaufte er die Stücke jedoch nicht, sondern behielt sie selbst. Erst Jahrzehnte später, Jahre nach seinem Tod, versuchten seine Erben in den Achtzigerjahren, die Relikte nach und nach auf dem internationalen Kunstmarkt zu veräußern. Natürlich erregten sie Aufsehen, deutsche Behörden schalteten sich ein, anfangs flossen Millionen in Richtung der Verkäufer, es gab Prozesse und man überschüttete sich gegenseitig mit Vorwürfen.“
„Letztendlich kehrten aber zehn Reliquien auf ihren angestammten Platz zurück, nicht wahr?“, fragte Torben nach.
„Ganz richtig, mein Sohn“, meldete sich auch Frau Kern nun wieder zu Wort. „Das sogenannte Bergkristall-Reliquiar und ein Umhängekreuz fehlen allerdings bis heute.“ Sie lächelte geheimnisvoll. Torben spürte förmlich, dass sie genau wegen dieses Umstandes hier waren. Er fragte sie ganz direkt: „Spannen Sie mich bitte nicht weiter auf die Folter. Was wissen Sie darüber?“
„Über die Umstände des letztendlichen Verschwindens in den Vereinigten Staaten weiß ich gar nichts. In den Zeitungen stand nur, dass beide Gegenstände in Dallas abhandengekommen sein sollen. Mehrere Zeugen berichteten, sie weit nach Kriegsende noch im Besitz von Meador gesehen zu haben. – Allerdings“, ihr spitzbubenhaftes Lächeln kehrte zurück, „habe ich als junges Mädchen eine Beobachtung gemacht, die mit eben diesen beiden Gegenständen in Verbindung stehen könnte.“
Bedeutungsvoll nahm Frieda Kern noch einen Schluck aus der Teetasse und begann danach zu erzählen: „Natürlich sprach es sich sehr schnell herum, dass Carl viel Zeit mit einem US-amerikanischen Offizier verbrachte. Während einige ihn für diesen Umgang mit dem Feind verachteten oder wieder andere ihn um seine neuen, guten Beziehungen beneideten, überwältigte mich ein völlig anderes Gefühl, nämlich Eifersucht! Was treibt wohl ein erwachsener Mann mit einem zarten Jungen, der halb so alt wie er selbst ist? Wieso verbringt er seine Freizeit mit ihm? Auch wenn es Carl nicht gemerkt hat, ich habe gespürt, welche Neigungen Meador hatte.
Es machte mich zu dieser Zeit jedenfalls völlig verrückt, mir vorstellen zu müssen, was Meador mit meinem Carl jeden Nachmittag, wenn sie verschwanden, anstellte. Also passte ich sie eines Morgens ab und verfolgte ihren Jeep mit meinem alten und viel zu großen Damenrad. Glücklicherweise schien es Meador nicht eilig zu haben und mir gelang es dadurch, an ihnen dranzubleiben. Natürlich wurde der Abstand zwischen uns immer größer und irgendwann verlor ich sie gänzlich aus den Augen.
Außer Atem wie ich war und völlig betäubt von dem Gedanken an meine Jugendliebe, kam mir aber Aufgeben nicht einmal ansatzweise in den Sinn. Ich folgte der Straße, einem ungepflasterten Feldweg, immer weiter. An Kreuzungen versuchte ich anhand von frischen Fahrspuren, die richtige Richtung zu erahnen und drang dabei in den Wald über den Altenburger Höhlen vor, viel weiter, als jemals zuvor. Ich wusste, dass es Gerüchte gab, dass sich hier noch versprengte deutsche Soldaten aufhalten sollten, die unter anderem Waffendepots bewachten. Mein Sinn für Gefahr kehrte allmählich zurück, und ich begann langsam, wieder einen klaren Gedanken zu fassen. Gerade als ich umkehren wollte, erblickte ich jedoch in einiger Entfernung Meadors Wagen und schöpfte wieder neuen Mut. Er stand, abwärts des Weges geparkt, nur einhundert Meter von mir entfernt. Meador war außerhalb des Autos, und Carl konnte ich hinter der Frontscheibe im Inneren entdecken. Es schien, als wäre er in ein Buch vertieft. Er nahm nichts von seiner Umgebung wahr.
Zu meiner völligen Überraschung lief aber Meador plötzlich und scheinbar zielgerichtet los. Über der Schulter hing ihm lose ein Rucksack, der offensichtlich leer war. Ich konnte erkennen, wie er langsam den kleinen Hang des Hügels hinaufkletterte. Ab und an stützte er sich dabei an einem Baum ab. Bei diesen Gelegenheiten blickte er sich regelmäßig um, als ob er sicher gehen wollte, nicht verfolgt zu werden.
Ich war damals völlig verwirrt, weil ich mich wohl getäuscht hatte und gleichzeitig doch unendlich erleichtert, dass Meador mit meinem geliebten Carl gar kein geheimes Schäferstündchen verbrachte. Aber was machte er dann mitten in dieser Einöde?
Um der Frage nachzugehen, versteckte ich schnell mein Fahrrad in einem Graben hinter einem Gebüsch und folgte Meador vorsichtig. Das war übrigens nicht so einfach, wie es sich jetzt vielleicht anhört. Ich nutzte dafür umgestürzte Baumstämme, Gestrüpp und Bodensenken, immer darauf bedacht, dass er mich nicht sah oder hörte. Plötzlich – ich war vielleicht sechzig Meter