Harter Ort. Tim Herden
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Laura Ihlow bog nach links ab in einen zunächst schmalen, gassenartigen Weg. Die Polizisten folgten ihr. Bald öffnete sich die Landschaft und vor ihnen lag ein weites Schneefeld. Am Ende stand ein Haus. Die alte Vogelwarte, nun das Hotel „Dornbusch“. Damps Ärger war durch die Anstrengung fast verflogen. Er blickte sich um. Links ragten hinter dichten Büschen die dunklen Gemäuer der Lietzenburg auf. Er sah einen Lichtschein. „Dort ist ja jemand“, rief er aus. Auch die beiden Frauen sahen sich um.
„Nein, das ist nur ein Baustellenlicht“, erklärte Laura Ihlow. „Es brennt nicht immer, sondern ist an eine Zeitschaltuhr gekoppelt. Der Besitzer will damit Einbrecher abschrecken, damit sie ihm nicht wieder ausbauen, was er gerade hat einbauen lassen.“
Damp schüttelte den Kopf. So etwas war noch nie auf Hiddensee passiert. Er konnte sich nicht mal genau erinnern, wann ihm das letzte Mal ein Einbruch gemeldet worden war. Vielmehr sorgte er sich über die unvorsichtigen Hiddenseer, die gern mal ihre Hausschlüssel unter Blumentöpfen oder in einem geöffneten Fenster ablegten. Dafür brachten die Zugereisten aus den Großstädten nun neue Marotten mit und ließen das Licht brennen, wenn sie nicht da waren.
Endlich hatten sie das Hotel „Dornbusch“ erreicht. Sie trampelten sich auf der Eingangsstufe den Schnee von Kleidung und Schuhwerk. Von dem Vorraum ging es in ein dunkles Treppenhaus. Die Wände waren grau gestrichen, zu den Stufen durch einen ochsenblutroten Sockel abgegrenzt. Die Holzstufen waren im selben Farbton gestrichen, aber mit einem hellen Kokosläufer. Es roch noch nach frischer Farbe. Links öffnete sich eine Tür. Eine Frau schaute heraus.
„Endlich!“, rief sie aus. „Haben Sie etwas erreicht?“
Laura Ihlow deutete hinter sich. „Frau Blohm und Herr Damp von der Polizei. Sie haben keine guten Nachrichten.“ Sie fing wieder heftig an zu weinen und rannte ohne ein weiteres Wort die Treppe nach oben.
Die Frau starrte die beiden Polizisten an. „Was ist mit Martin?“ Damp sah kurz Nelly Blohm an. Sie hatten nicht ausgemacht, wer die Todesnachricht überbringen sollte. Aber er war der Chef, dachte sich Nelly. Damp ging einen Schritt nach vorn, doch die Ehefrau kam ihm zuvor. „Ist er … ist er tot?“, fragte die Frau mit leiser, ungeduldiger Stimme.
Damp hielt kurz die Luft an, dann nickte er. „Wir haben Ihren Mann letzte Nacht auf der ‚Caprivi‘ entdeckt. Ihre … äh, Mitarbeiterin hat ihn identifiziert. Wahrscheinlich ist er erfroren.“
„Erfroren! Auf der ‚Caprivi‘“, wiederholte die Frau verstört und schüttelte dann verständnislos den Kopf. „Was ist die ‚Caprivi‘? Ein Fährschiff?“
„Ein altes Hotelschiff“, erklärte Nelly Blohm. „Es liegt im Hafen von Vitte, ist aber nicht mehr in Betrieb.“
„Und was wollte er da?“ Wieder schüttelte sie den Kopf. „Ich versteh das alles nicht.“
„Deshalb sind wir auch hier. Wir würden gern, Frau Dehne, auch wenn der Moment vielleicht etwas ungünstig ist, Ihnen ein paar Fragen stellen“, erklärte Damp etwas umständlich. „Aber zunächst erst mal mein, äh, unser Beileid.“
Dehnes Frau schien Damps Worte gar nicht gehört zu haben. „Hat er dort einen Unfall gehabt? Wie konnte er denn erfrieren?“
„Das müssen wir herausfinden“, sagte Nelly Blohm. „Momentan behandeln wir den Tod Ihres Mannes noch als ungeklärten Todesfall, weil weder der Inselarzt noch ein Rechtsmediziner bei einer ersten Leichenschau am Fundort einen Totenschein ausstellen wollten.“
Die Frau blickte die beiden Polizisten mit großen Augen an. „Ungeklärter Todesfall?“, wiederholte sie leise und verharrte dann ein paar Minuten in einer völlig erstarrten Haltung. Langsam schien sie zu begreifen, was das bedeuten konnte. „Wollen Sie sagen, mein Mann ist ermordet worden?“
„Nein, nein, dafür gibt es momentan keine Beweise“, wiegelte Damp ab. Er hoffte immer noch, dass sich Dehnes Tod als Unglücksfall erweisen würde. „Wir müssen nur versuchen, genau zu …“, er suchte nach dem richtigen Wort und wedelte dabei mit der Hand. Nelly sprang ein. „ … zu rekonstruieren, was Ihr Mann Silvester gemacht hat, nachdem er hier weggegangen ist.“ Dann schaute sie sich etwas ungeduldig in der Halle um und erreichte damit ihr Ziel.
„Oh, Entschuldigung, ich bin völlig von der Rolle. Kommen Sie doch hier herein.“ Sie öffnete die Tür etwas weiter. Die Polizisten folgten ihr in einen Raum, an dessen Wänden ringsum hohe Regale standen. Allerdings waren sie nur zum Teil mit Büchern gefüllt. In vielen Fächern standen ausgestopfte Vögel: von kleinen Sperlingen, Meisen und anderen Wiesenvögeln bis zu ausgewachsen großen Schwänen und Seeadlern. Damp und Blohm blieben stehen und blickten sich mit großen Augen im Raum um. Die Glasaugen vieler Präparate leuchteten im diffusen Licht des Raumes bedrohlich, fast angriffslustig.
„Übrigens, ich heiße nicht Dehne“, verkündete die Frau. „Mein Name ist Leetz, Isa Leetz. Ich habe meinen Namen bei der Heirat behalten.“ Sie drehte sich um und sah die staunenden Gesichter der Polizisten. „Das Hobby meines Mannes, Exmannes ja nun“, erklärte sie kühl. „Er war Hobbyornithologe. Vögel waren seine Leidenschaft, die ich leider nicht so richtig geteilt habe. Aber er wollte mit diesem Zimmer auch an die alte Nutzung des Hauses als Vogelwarte erinnern. Und es ist nun mal sein Hotel.“
Nelly Blohm wunderte sich, wie gefasst die Frau plötzlich war. Sie wirkte nun sehr distanziert, wenig berührt vom Tod ihres Mannes. Der Eindruck wurde durch die geschäftsmäßige Kleidung und die Frisur verstärkt. Die Haare waren halblang geschnitten, die Spitzen leicht eingedreht nach innen, wie man es oft bei Geschäftsfrauen sah. Ihre Augen waren sehr hell, der Mund schmal. Sie trug ein sportlich-elegantes Twinset mit Pullover und Jacke aus Kaschmir, wie Nellys geschultes Auge sofort registrierte, kombiniert mit einem knielangen Rock und nicht allzu hochhackigen Pumps. Nelly blickte auf ihre eigenen Schuhe und sah, wie sich kleine Rinnsale des tauenden Schnees ihren Weg auf die schweren Teppiche suchten, die auf dem Parkett lagen. Es bildeten sich feuchte Flecke neben den Sohlen. „Sollen wir die Schuhe ausziehen?“, fragte Nelly schuldbewusst.
Frau Leetz winkte ab. „Ist auch nur Wasser. Das wird uns nicht umbringen.“ Sie wies auf eine Sitzgruppe aus Leder, die um einen runden Rauchtisch vor einem brennenden Kamin stand. Während sie sich auf das Sofa setzte, sanken Damp und Blohm in den erstaunlich weichen Polstern der Sessel ein. Plötzlich tauchte hinter der Lehne des Sofas der Kopf eines Kindes auf und blickte neugierig auf die Polizisten.
„Wer bist du denn?“, fragte Nelly lächelnd. Da erschien noch ein zweiter blonder Jungenkopf.
„Das sind meine Kinder. Florian und Jonas. Sie stammen aus meiner ersten Ehe“, klärte Isa Leetz auf. Die beiden wurden mutiger und kamen aus ihrem Versteck nach vorn und kletterten auf das Sofa. Sie setzten sich links und rechts von ihrer Mutter und schmiegten die Köpfe an ihren Körper. Jeder hatte kleine Autos in den Händen. Sie begannen damit über den Rock und die Beine ihrer Mutter zu fahren. Nelly schätzte, dass die Jungen entweder gerade in die Schule gekommen waren oder kurz davor standen. Sie dachte sofort an Lukas und spürte einen kleinen Stich im Herzen.
„Mein erster Mann ist bei einem Autounfall vor drei Jahren ums Leben gekommen. Martin habe ich erst Anfang Dezember geheiratet, ganz spontan bei einem Ausflug nach Quedlinburg.“ Die Erinnerung ließ ein kurzes Lächeln über ihre Lippen gleiten. Es verschwand aber sofort wieder. „Und nun bin ich schon wieder Witwe. Ich scheine den Männern kein Glück zu bringen.“
Es entstand eine bedrückende Pause. Damp überlegte,