Durch die Erde ein Riß. Erich Loest

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Durch die Erde ein Riß - Erich Loest

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Fähnleinführer beim Deutschen Jungvolk, Reserveoffiziersbewerber, Redakteur, Bezirksvorsitzender im Schriftstellerverband. Dazwischen jeweils ein schmerzhafter Fall. Aufrappeln. Der tiefste Sturz, Zuchthaus. Nun ein Sprößchen: Verantwortlich für die Arbeitsleistung von drei Mitgefangenen.

      »Ich würds machen«, sagte Jupp nach dem Rauchen. »Deswegen mußte doch kein anscheißn.«

      »Und in paar Wochen heißts: Sie machn Kalfaktor in ’ner Brigade.«

      »Warts doch ab.«

      Sie wurden wieder in den Arbeitsraum geführt und montierten und löteten und erfüllten die Norm und schafften ein wenig Vorlauf für den nächsten Tag. Eine halbe Stunde vor Schichtende stand der Hauptwachtmeister in der Tür, er blickte 23/​59 an und fragte, wobei er mit dem Schlüsselbund gegen den Oberschenkel klapperte: »Also was is?«

      »Ich bleib dabei.«

      Ein Blick, wartend, nicht einmal zornig. »Hoffentlich ham Se sichs gut überlegt.« Wieder Warten. Schlüsselklappern. Der Hauptwachtmeister zeigte auf Jupp: »Sie gem Matrial und Werkzeug ab.«

      »Jawoll, Herr Hauptwachtmeister.«

      Sie redeten nach einer Weile darüber, ob noch vor Sonnabend Zigaretten ausgeteilt würden. Jupp sammelte die Zangen und Schraubenzieher ein. 23/​59 war eher auf Zelle als er und nahm die Zeitung und das Abendbrot herein. Er schlug die Zeitung auf, 27. November 1961, wieder hatten sich DDR-Betriebe entschlossen, nach dem Bau des antifaschistischen Schutzwalls etliche Erzeugnisse, die sie bislang aus dem westlichen Ausland bezogen hatten, selbst herzustellen, sich, wie es hieß, störfrei zu machen. Bauern bereiteten sich in Winterseminaren auf das kreuzweise Verlegen von Mais vor.

      Jupp berichtete, er habe bei der Materialausgabe den Löwen von Biesdorf getroffen, auch Graf Hardenberg, der natürlich kein Graf war. Allgemeine Meinung: vor Abschluß des Friedensvertrags keine Amnestie mehr. Aber dann sofort. Schöne Grüße. Und halt den Arsch warm.

      Sie aßen Brot mit Schmalz und Leberwurst und ein wenig Marmelade aus dem eigenen Vorrat. Kurz nach sechs wurde die Glühbirne ausgeschaltet, die Anstalt sparte Strom. Licht fiel nur noch durchs Fenster herein, die Scheinwerfer auf den Mauern, die Kunstmonde, brannten natürlich hell und klar. Ihr Glanz reichte, vor der Nachtruhe die Klamotten auf dem Schemel kantenrein zu packen, Schüssel und Löffel obenauf. Abmeldung in Unterhosen.

      Nach dem Einschluß lag 23/​59 noch eine Stunde wach. Er hakte diesen Tag ab, vier Jahre und vierzehn Tage war er in Haft, drei Jahre, fünf Monate und sechzehn Tage hatte er noch vor sich. Er hätte alles in Tagen ausdrücken können, auch die Spanne dazwischen. Er resümierte: Kein leichter Tag heute, aber du hast ihn hinter dir. Der Teufel naht meist auf leisen Sohlen. Er dachte darüber nach, wie es denn gekommen war, daß er keine Macht wollte, keine von oben verliehene und von unten nicht kontrollierte Macht. Keine Gesellschaft war denkbar, ohne daß Menschen Macht über andere ausübten – warum, fragte er sich, ist das für mich ein Problem und für andere nicht? Wer Macht hatte, war allergisch gegen alle, die nicht ein Häppchen von ihr leihen wollten. Trugen die Mächtigen schlechtes Gefühl mit sich herum, suchten sie deshalb Komplizenschaft und haßten die Machtverweigerer, weil die sich nicht zu Mittätern machen ließen? War es eitel, sich das weiße Hemd der Unschuld überzuziehen – seht her, was für ein Engel ich bin, ich mach mir die Hände nicht schmutzig? Teilhabe an der Macht, um Informationsbedürfnis, Neugier zu befriedigen? Die Tragik derer, die in der Mitte zerrieben wurden – ein endloses Feld. Vielleicht verschwand er morgen oder nächste Woche in Einzelhaft, vielleicht steckten sie ihn mit einem Lump zusammen, legten ihn in eine Außenzelle, in der es doppelt so kalt war wie in Innenzellen. Kein Kino für drei Monate. Möglichkeiten gab es die Menge, und er kannte fast alle. Schreiberlaubnis bekam er ohnehin nicht. Oder auch: Es blieb alles beim alten.

      Jupp begann tief zu atmen und leise zu schnarchen. 23/​59 blickte gegen die Decke mit dem Gitterschatten, der Knastmond würde niemals untergehen. Er versuchte, sich an Wendungen zu erinnern, als er mit der Macht kollidiert war. Dabei überkam ihn Müdigkeit, er drehte sich auf die Seite und zog die Decke über den Kopf, daß nur ein Spalt zum Atmen blieb. So würde er die Kälte überstehen. Der Schlaf kam schnell und spülte alles Grübeln weg. 23/​59 wehrte sich nicht gegen ihn. Denn natürlich ist Schlaf das Beste, was es im Knast überhaupt gibt.

       I. Dieses Jahr sechsunddreißig

       1

      Im April 1936 füllte ein Zehnjähriger den Aufnahmeantrag für das Deutsche Jungvolk aus. Füllte er aus? Tat es die Mutter für ihn? Das geschah auf dem abschüssigen Markt von Mittweida, seiner Geburtsstadt, zwanzig Kilometer nördlich von Chemnitz. Ein Zelt war aufs Pflaster gepflockt, uniformierte Dreizehnjährige wachten mit gespreizten Beinen, die Fäuste auf den Oberschenkeln geballt, den Blick nach Möglichkeit starr. Habt-Acht-Stellung hieß das, der Neuling sollte es noch lernen. Es war dämmrig im Zelt und roch nach imprägnierter Leinwand und gelacktem Leder, die Luft war stickig wie immer in Zelten, da begegnete er zum erstenmal diesem Geruch, der in der Erinnerung aufweht als Geruch dieser Zeit. Jedesmal, wenn er in den nächsten acht Jahren das Halstuch umlegte, hatte er den Ledergeruch des Knotens vor der Nase; so was hält ein Leben lang vor.

      Vermutlich traten die beiden nicht Hand in Hand ins Zelt, gewiß gingen sie nicht Hand in Hand wieder hinaus. »Komm, laß dich führen«, hatten Mutter und Großeltern und Schwester tausendmal gesagt, das war nun vorbei. Zwei Sehnsüchte rieben sich: Er wollte, daß ihn die Mutter oder das Dienstmädchen jeden Morgen Huckepack aus dem Kinderzimmer in die Küche trug, daß er der gehegte Erich der lieben Großeltern bliebe, folgsam und gutartig. Und er wollte fort zu den großen Jungen, die auf Trommeln einschlugen und jetzt im April schon kurze Hosen und Kniestrümpfe trugen.

      Das war ein aufregendes Frühjahr, er wechselte von der Volksschule zur Oberschule über, und am 20. April, zu Hitlers Geburtstag, sollte er ins Jungvolk aufgenommen werden. Nachdem alle linken Jugendorganisationen zerdrückt und alle rechten aufgesogen waren, schickte Reichsjugendführer Baldur von Schirach sich an, die Masse der deutschen Jugend zu gliedern in Führer und Gefolgschaft, ihnen marschieren und singen zu befehlen, sie zu lehren, wie man Zelte baute, Wasser im Kochgeschirr zum Wallen brachte und eine Karte las unter Beachtung der westlichen Mißweisung. Kimme und Korn, verklemmt und verkantet, und kehrt wurde immer auf dem linken Absatz gemacht. Landsknechtstrommeln dröhnten, Fanfaren gellten, abends loderte auf dem Markt ein Feuer. Mit Flammen hatten’s die Nazis auch in Mittweida, mit Sonnwendfeuern und Fackelzügen; es muß sie geschmerzt haben, als sie im Herbst 1939 feindlicher Flieger wegen auf dieses Rauschmittel verzichten mußten. Schon einige Wochen vorher, an seinem zehnten Geburtstag, hatte der künftige Pimpf dies auf dem Gabentisch gefunden: Braunhemd und schwarze Hose von den Großeltern, Koppel und Schulterriemen von Tante Lucie, Halstuch und Knoten und Jacke von Mutter und Vater. Er machte sich uniform damit, bevor er sich am Morgen des 20. April mit wimmelnden Scharen anderer Jungen auf dem »Platz der SA« einfand und unter überlaut wiederholten und nicht verstandenen Befehlen in Reih und Glied geschubst wurde. Da merkte er schon, daß er pinkeln mußte und wagte nicht, sich ein Stückchen davonzumachen und in einen Winkel zu stellen; der Druck der Blase verstärkte sich beim Marsch durch die halbe Stadt zum Schützenhaus hinauf, im Saal traute er sich erst recht nicht, einen Schnurträger um Erlaubnis zum Austreten zu bitten. Fahnen wurden hereinzelebriert, Reden gehalten, und im Pimpfanwärter L. wuchs die Scham, im heiligsten Augenblick, der ihm bislang vergönnt gewesen war, entlaufen zu müssen zur teergestrichenen Wand neben der Bühne, und es wuchs die Angst, er pißte sich in die Hosen. Als die Not am höchsten war, quälte er sich doch aus der Reihe und auf einen Beschnurten zu, der sah ihm seine Bedrängnis an und wartete keine Frage ab und zeigte eilfertig den Weg, der Gequälte erreichte die Teerwand mit Müh und Not und schiffte in panischer Hast durchs Hosenbein; das Glück dabei war größer als jedes andere an diesem Tag. Draußen im Saal schworen hundert

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