Durch die Erde ein Riß. Erich Loest

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Durch die Erde ein Riß - Erich Loest

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später Mutter der Käthe und ein Jahr darauf des Erich wurde, und dann mischt sich dieses Bürschlein ins Gruppenbild, der Stammhalter, ostisch rundköpfig, krummbeinig, mit magerem Po auf dem Schaffell und windelpraller Hose an der Hand seiner Schwester, einszweidrei im Sauseschritt, da hält er schon die Zuckertüte. Ein Germane war er keineswegs; die Loests aus Pommern waren blond und blauäugig, aber Martha, das schönste Mädchen aus der Weberstraße, hatte massenhaft Pigmente in die Erbmasse eingestreut. Alle Rippen der Sonne und der Vogtländerkamera darbietend hockt der vorerst Letzte seines Namens auf einem Steg an der Kriebsteintalsperre. Zehn Jahre alt ist er inzwischen, klappen wir das Album einstweilen zu.

      In diesem Jahr 1936 erlebte Berlin die Olympischen Spiele. Die Arbeitslosigkeit war beseitigt, in Mittweida unter anderem dadurch, daß die Firma Wächtler & Lange Millionen Blechabzeichen für braune Feste und Kampagnen stanzte. In Spinnereien, Steinbrüchen und Maschinenfabriken war wieder jeder Arbeitsplatz besetzt, in Alfred Loests Eisenwarengeschäft stieg der Umsatz. Fremde strömten nach Mittweida, denn die Kriebsteintalsperre staute seit kurzem ihr Wasser bis vor die Tore der Stadt, Zufahrtsstraßen und Bootsanlegestellen wurden gebaut, und der örtliche Tagebuchschreiber, der Arzt Dr. Sauer, vermerkte den Besuch des Gauleiters Mutschmann und des Reichsorganisationsleiters Dr. Ley und stellte im ›Mittweidaer Tageblatt‹ die Frage: »Wann kommt der Führer?« Hitler kam nicht nach Mittweida, doch weihte er ein Stück der Autobahn von Dresden über Chemnitz zum Hermsdorfer Kreuz ein. Im Wald bei Hainichen harrte Mittweidas Jugend, um zu jubeln, aber Hitler verspätete sich, weil andere Jubler ihn aufgehalten hatten. Die Oberschüler begannen ein Versteck- und Suchespiel, und L. kroch gerade durch die dickste Dickung, als Hitler vorbeifuhr. Erzählte er abends daheim trotzdem, er habe den Führer gesehen?

      Nicht nur das Jungvolk war neu in diesem Jahr, sondern auch die Oberschule. Ihr Lehrprogramm war dem aller Oberschulen im Reich angeglichen und bot einunddreißig Wochenstunden, davon u. a. fünf Stunden Sport, sechs Stunden Englisch, fünf Stunden Deutsch, drei Stunden Geschichte, vier Stunden Mathematik und zwei Stunden Religion. L. begriff leicht und mußte auf beinahe jedem Zeugnis den Tadel über sich ergehen lassen, seine Mitarbeit ließe zu wünschen übrig. Mit Leidenschaft betrieb er Erdkunde und Geschichte und wußte das Zehnfache von dem, was der Lehrstoff vorschrieb, er war faul im Englischen und handelte sich dort hin und wieder eine Vier ein. Fast alle Schüler stammten aus Bürger- und Kleinbürgerhäusern, die Väter waren Fabrikbesitzer, Prokuristen, Lehrer, Kaufleute, Ärzte, es gab ganz wenige Großbauernsöhne und in jeder Klasse zwei, deren Eltern nicht die zwanzig Mark Schulgeld monatlich aufbringen konnten, und eine der Freistellen besaß der blitzgescheite Manfred Naumann aus Altmittweida, das einzige Arbeiterkind dieser Klasse. Carl Andrießen radelte aus Dreiwerden zur Schule, sein Vater arbeitete dort als Chemiker in einer Papierfabrik. Naumann war von Anfang an der Zweitbeste hinter einem unsportlichen, ungeselligen Nur-Lerner, Andrießen und L. lagen auf den Plätzen vier oder fünf, sie waren niemals auch nur in einem Fach gefährdet und griffen niemals nach der Krone des Primus. Naumann war in schwieriger Lage: Wenn er einmal nicht gelernt hatte oder sich an einer Dummheit beteiligte, mahnte ein Lehrer mit erhobenen Brauen, vom Inhaber einer Freistelle habe man derlei nicht erwartet! Niemand handelt sich leichtfertig solch einen Tiefschlag ein, auch Naumann nicht. Und so verwendete er mehr Fleiß als die meisten auf die Hausaufgaben, von ihm konnte jeder jederzeit abschreiben. Andrießen las früher als andere Zeitung und wußte montags früh die Ergebnisse der Fußball-Gauliga oder die Aufstellung eines Länderspiels und die Vereinszugehörigkeit beispielsweise der Herren Münzenberg und Gelesch. Dafür revanchierte sich L. mit den Namen der längsten norwegischen Fjorde und aller schweizerischen Kantone, der Forts von Verdun und der Zahl der Luftsiege der Kriegsflieger Boelcke und Immelmann, von Richthofen ganz zu schweigen.

      Alle Einflüsse daheim waren bürgerlich-national. Manchmal klang Unbehagen über Rüdes und Lautes der frischen Machthaber durch, aber neue Besen kehren eben manchmal etwas heftig. Was gegen die Juden geschah, war gewiß hart und geschmacklos über jedes Maß, aber, wendete der Vater ein, hätten nicht jüdische Kaufhäuser den Einzelhandel schwer geschädigt? Kein Wörtchen gegen die Nazis hörte L. in den Häusern seiner Freunde. Die meisten Väter der Klassenkameraden waren Mitglieder der NSDAP, einige schon vor 1933, andere waren trotz allerlei Vorbehalte vom wirtschaftlichen Aufschwung düpiert und wollten, da die Nazis nun einmal gesiegt hatten und keine Kraft in Deutschland existierte, die sie vertreiben konnte, ihre Kinder nicht in Konflikte stürzen.

      Mittweida: Kein König nächtigte hier, keine Schlacht wurde ringsum geschlagen; was will es schon bedeuten, daß sich Karl Stülpner, erzgebirgischer Exfreischütz, als geschlagener alter Mann hier am erblindeten Auge operieren ließ, wer weiß schon, daß Karl May vom Amtsgericht Mittweida wegen Betrugs und Diebstahls im Rückfall zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt wurde, die er im benachbarten Waldheim absaß? Aus Jahrhunderte währendem Schlaf schreckte die Stadt im Dampfmaschinenzeitalter auf. Textil- und Maschinenfabriken entstanden, Unternehmer bauten Villen; das Technikum zog Studierende aus aller Welt an, bis zu zweitausend waren es bisweilen, Mittweida besaß an die hundert Gaststätten vom Hotel bis zur Stampe. Mit den Fabriken wuchs das Proletariat. Als einer der ersten Wahlkreise im Reich schickte Mittweida-Frankenberg oder Mittweida-Burgstädt einen sozialdemokratischen Abgeordneten in den Reichstag; Vahlteich (nach dem man in Mittweida keine Straße benannt hat) war mehrmals der siegreiche Kandidat. Bebel hat oft in Mittweida gesprochen, die Sozialdemokratie war hier jahrelang die stärkste Partei. Das rote Sachsen hatte seinen glutroten Kern um Chemnitz und Zwickau, Mittweida gehörte zu diesem Kraftzentrum. Als die faschistische Demagogie vordrang, sog sie die bürgerliche Mitte auf, gegen die Arbeiterparteien gewann sie keinen Stich. Am 14. September 1930 ergab die Reichstagswahl im Amtsbezirk Mittweida (Stadt und umliegende Dörfer): SPD 8 706 Stimmen, KPD 1 749 Stimmen, NSDAP 5 467 Stimmen.

      Die Arbeitslosigkeit, die kein Land der Welt so schlug wie Sachsen, führte zur Radikalisierung und Polarisierung und bot den Nazis Anlässe zu immer zügelloserer Agitation. Noch nicht zwei Jahre später, am 31. Juli 1932, gab es dieses für die alte rote Hochburg erschreckende Bild: SPD 7 999 Stimmen, KPD 2 146 Stimmen, NSDAP 11 280 Stimmen.

      Die Nazis waren stärker als die beiden Arbeiterparteien zusammen und bauten ihre Organisationen massiv aus. Am 6. November wurde noch einmal gewählt: SPD 7 643 Stimmen, KPD 2 746 Stimmen, NSDAP 10 134 Stimmen.

      Die schlimmste Gefahr schien überwunden. Aber am 30. Januar 1933 übernahmen die Nazis die Macht, Tagebuchführer Dr. Sauer schwafelte aus brauner Sicht: »Die Hochburg der KPD, das Karl-Liebknecht-Haus in Berlin, wurde besetzt. Ein Labyrinth von unterirdischen Gängen wurde entdeckt. Viele hundert Zentner hochverräterischen Materials wurden gefunden. Man hatte zum bewaffneten Umsturz aufgefordert; dabei sollten angesehene Bürger festgenommen und erschossen werden. Im ganzen Reich fanden Polizeiaktionen gegen die KPD, Haussuchungen, Verhaftungen von KPD-Führern statt. In Sachsen wurde für die gesamte staatliche Polizei der Ausnahmezustand verhängt, streng national gesinnte Deutsche bildeten die Hilfspolizei, öffentliche Geldsammlungen der Kommunisten wurden verboten. Bei uns fanden die ersten Verhaftungen von Kommunistenführern am 3. März früh statt. Auch Gewerkschaftsführer kamen in Schutzhaft. Das Volkshaus (Rosengarten) wurde durchsucht. Waffen wurden gefunden. Elf Personen kamen in Schutzhaft. Das Straßenbild Mittweidas hatte sich geändert. Neben der alten Schupo zeigten sich Hilfspolizisten: Zehn Stahlhelmer und zehn SA-Leute steckten in der Hilfspolizei-Uniform. Bewaffnete Feuerwehrleute schützten Gas-, Wasser- und Eltwerk. Wir hatten jetzt eine national eingestellte Polizei!«

      E. L. war sieben. Wenige unscharfe Bilder bewahrt das Gedächtnis: Mit seiner Mutter querte er eine Straße, da war ein Umzug, heute würde man sagen: eine Demonstration. Menschen und Menschen, die beiden mußten warten, bis eine Lücke entstand. Wahl, die Mutter nahm den Zettel und wollte in die Kabine gehen, jemand sagte, da dürfe niemand anderes mit hinein, jemand widersprach: nun ja, der Junge, warum denn nicht. Die Mutter machte ein Kreuz auf den Zettel und flüsterte, damit wähle sie Hitler, und Erich solle es niemandem verraten. Abend, Blick aus dem Fenster; gegenüber, unter einer Gaslaterne am Zaun des Gaswerks stand ein Uniformierter mit Stahlhelm und Gewehr. Die Kommunisten wollten das Gaswerk in die Luft jagen, erläuterte der Vater, aber dieser Mann da paßte auf. Opa war Gaswerksdirektor. Dieser Mann da wachte;

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