Durch die Erde ein Riß. Erich Loest

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Durch die Erde ein Riß - Erich Loest

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war, in ihm saß Außenminister Ribbentropp, schüttelte Hände und rief fröhlich, man solle ihn doch passieren lassen. Ein Volk, ein Reich, ein Führer. Und wieder wurde ein Dreizehnjähriger gegrüßt und dankte, er selbst grüßte Jungen mit der grünen oder grünweißen Schnur und war dabei, als sich Massen auf dem Platz vor der Reichskanzlei drängten und im Chor schrien: »Wir wollen unsern Führer sehn!« Hitler zeigte sich auf dem Balkon, gerahmt von Himmler und Goebbels, und L. reckte mit Tausenden den Arm und brüllte Heil, Heil, Heil! Da hatte Hitler die Abenteuer Aufrüstung, Rheinland, Österreich und Sudetenland schon hinter sich gebracht, hatte gar auf der Prager Burg gestanden, und alles war gelungen mit Lüge, Wortbruch und Mord, aber ohne einen Kanonenschuß, über ihm donnerte die modernste Luftwaffe der Welt, und die Tausende, die da jauchzten, fühlten sich als Teilhaber dieser Erfolge, auch das dünne Loestchen mit seiner rot-weißen Schnur. Als L. sich am Abend im D-Zug nach Chemnitz auf seinen Sitz fallen ließ, ratterten in seinen Gedanken noch Kradschützen und dröhnten Stukas und ballten sich Menschen und reckten Hände und Hälse und schrien Heil, und ein paar Hundert oder vielleicht auch nur zwei Dutzend Jungen hatten ihn gegrüßt. Er war Teil der Macht.

      Es gibt keinen Roman über die Hitlerjugend, und auch der Chronist wird keinen schreiben, es sei denn, er stieße auf eine packende Fabel. Eine Fabel – er müßte über sie stolpern, denn eigentlich sucht er sie nicht –, und wenn er dann schriebe, würde er diesem Phänomen beizukommen suchen, daß sich Menschen, die keine Macht besaßen und vielleicht auch keine wollten, mit einem Schlag änderten, wenn ihnen Macht in den Schoß fiel, und wäre sie noch so gering. Dieser Gedanke ist nicht für alle Zeiten gleich und stellt sich in jeder Ordnung neu, weil die Formen der Macht immer anders sind. Wie’s 1939 war, wie’s dem kleinen E. L. erging, hat der Chronist nicht vergessen.

      Es scheint obenhin betrachtet denkbar, der Schriftsteller L. hätte sich um das Jahr 1955 herum einem Roman über die HJ zugewendet. Da lag das Ende des Zweiten Weltkriegs zehn Jahre zurück, keinen Zweifel gab es landauf, landab an der Zutreiberrolle der HJ, schon gar nicht beim Genossen L.; Emotionen hatten reichlich Bodensatz hinterlassen, auf dem innere Anteilnahme sprießen konnte – warum suchte er keine Fabel? Freilich wäre es besser gewesen, er wäre auf eine harte Geschichte geprallt, hätte sich an ihr den Schädel wund- und wachgeschlagen und an ihr alle schriftstellerischen Theoreme zertrümmert, die er in sich aufgebaut hatte. Denn nie ging er selbstsicherer an das Montieren von Fabeln heran als Mitte der fünfziger Jahre, nie war er überzeugter, genau zu wissen, wie ein Roman beschaffen sein mußte und was er im Leser bewirken, wie er in dessen Bewußtsein diese und jene Reaktion hervorrufen sollte; flink war er mit dem Urteilen und Verurteilen bei der Hand, er fühlte einen glattgeschliffenen Stein in der Tasche, den Stein der Weisen, denn er wußte alles über den Sozialistischen Realismus und sein Kern- und Glanzstück, den positiven Helden. Er hatte gelernt, was das Typische war, zitierte Engels und Shdanow, und als das Typische galt ihm das Vorwärtsdrängende, Herausragende im Sinne des historischen Fortschritts. Also konnte, meinte er, niemals ein HJ-Führer der Held eines Romans sein, sondern in der Hitler-Ära immer und immer nur ein Widerständler, ein kommunistischer am besten. Ein jugendlicher Kämpfer gegen die HJ hätte im Zentrum eines solchen Werkes stehen müssen, so hätte er argumentiert, aber nicht isoliert hätte er kämpfen dürfen (wie Falladas Otto Quangel in »Jeder stirbt für sich allein«, was die zeitgenössische Kritik als untypisch schalt), sondern Schulter an Schulter mit Gleichgesinnten, die er mitriß. Solches aber war ihm nicht begegnet, da stieß sich die Theorie mit eigenem Erleben, und ein so arger Theoretiker war er nun doch nicht, daß er alle Erfahrung in den Wind geschlagen hätte. Ein HJ-Führer als tragisch scheiternde Hauptfigur? Oh, da war er gewarnt, es erging Arnold Zweig schlecht mit seinem Roman »Das Beil von Wandsbek« und vor allem der DEFA mit dem danach gedrehten Film, in dem ein Fleischermeister, der zum Scharfrichter der Faschisten wird, im Mittelpunkt steht. Nein, es gab nichts in der Theorie und der Praxis der fünfziger Jahre, das ermuntert hätte, sich am HJ-Stoff zu versuchen. Einmal, 1952 vermutlich, gab Kurt Bartel, der sich Kuba nannte und Sekretär des Schriftstellerverbandes war, in L.s Beisein einen Katalog von Schwerpunktthemen bekannt: Umgestaltung der Landwirtschaft, Kasernierte Volkspolizei, Einheit Deutschlands, Bau der Stalinallee, Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, deutsch-sowjetische Freundschaft, antifaschistischer Widerstandskampf. Dafür verhieß Kuba anspornende Stipendien. Die HJ war nie Schwerpunkt.

      An jedem 9. November marschierte eine Delegation des Deutschen Jungvolks zum Friedhof und legte einen Kranz am Grabe des SA-Mannes Max Beulich nieder. Beulich war von den Kommunisten zu den Nazis übergelaufen, das vergaßen ihm seine verratenen Genossen nie. An einem düsteren Abend des Jahres 1932 kehrten Mittweidas Faschisten aus Chemnitz zurück, dort hatte Hitler gesprochen. Auf dem Bahnhofsvorplatz wurden sie von Kommunisten empfangen, deren Losung hieß: Schlagt die Faschisten, wo ihr sie trefft! Den Worten folgten die Fäuste, bis in den Stadtkern zogen sich die Prügeleien hin; in einer Gasse zum Schützenplatz hinauf wurde Beulich schließlich erstochen. Am nächsten Tag waren drei junge Kommunisten, alle unter zwanzig, aus Mittweida verschwunden; es hieß, sie hätten sich in die Sowjetunion davongemacht. Ein Prozeß fand nie statt. Einer von denen, die nach dieser Nacht geflohen waren, wurde nach dem Krieg Polizeigeneral in Thüringen.

      Nach dem Sieg über den Faschismus wurde die Max-Beulich-Straße sofort umbenannt. In den Jahren danach bestand nie die Chance, daß der Name dieses Mannes genannt wurde. Nur noch die ganz Alten kennen ihn, mit ihrem Tod wird er gelöscht werden. Eines Tages könnten wache Kinder fragen: Ist es denn möglich, daß nur Kommunisten in den Saal- und Straßenschlachten mit den Nazis ihr Leben ließen, wehrten sich die Kommunisten denn nicht? Die Antworten sind dann verschollen.

      Meist troff Regen, wenn L., die Toten der Feldherrnhalle und Max Beulich zu ehren, zum Friedhof marschierte. Auch er trug einen Dolch am Koppel.

       II. Pistole mit sechzehn

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      Doch das Wichtigste für ihn war zwischen 1936 und 1939 nicht die Hitlerjugend, sondern die Schule. Ein halbwegs neues Gebäude am Stadtrand mit Blick auf den Park, ein praktisches freundliches Haus, Raum bietend für je eine Klasse von der Sexta bis zur Oberprima – der Sextaner L. trug neue Schulbücher in neuer Tasche nach Ostern 1936 zum erstenmal dorthin. Durch den Großvater mütterlicherseits, den Oberlehrer i. R., flackerte noch einmal die Überlegung auf, die ein Jahr ältere Schwester Käthe doch noch mitzuschicken, aber der Gaswerks-Opa siegte mit diesem Argument: Da kriegt sie bloß ’ne Brille und folglich nie einen Mann. Vor allem aber war Käthe als kaufmännischer Nachwuchs für das elterliche Geschäft ausersehen. Schluß der Debatte.

      Für das Gerangel um die Führungsspitze in der Klasse fehlte es ihm an Körperkraft und Lautstärke. Er lernte. Diese drei Jahre bis zum Kriegsbeginn boten ihm fordernde Schule, angefüllt, ausgefüllt mit Lehrstoff, dargeboten von Lehrern, die mit geringer Ausnahme ihr Fach verstanden und ernst nahmen. Der Chronist zweifelt fast an seiner Erinnerungsfähigkeit, so stark ist er verwundert, daß noch an jedem Montag eine christliche Andacht abgehalten wurde. Der Physiklehrer bediente das Harmonium, Pflicht war es, das Gesangbuch mitzubringen. Rektor Schönfelder, schon vor- und bloßgestellt als Gelegenheitsbarde des ›Mittweidaer Tageblatts‹, wachte an der Aulatür über die Einhaltung dieses Gebots. Ein Jahr darauf wurde er pensioniert – er kehrte nach Kriegsbeginn zu seiner und der Schüler Qual als Lateinlehrer für untere Klassen zurück –, ein junger Rektor trat ein, Lehnert, Alter Kämpfer der NSDAP, ein Politischer Leiter. Andacht wurde durch Fahnenappell ersetzt, zwei Studienräte aus dem demokratischen Lager trugen alsbald das Hakenkreuz am Jackett. In der Wolle gefärbte Nazis waren der Sport- und der Chemielehrer, der Sportlehrer war Reserveoffizier und rückte gelegentlich zu einer Übung ein; wenn er wiederkam, hatte er seine Kommandos so verkürzt, daß sie nur noch wie Bellen klangen. Knallend verkündete er, er sei von der Truppe zurück, nun pfeife es aus einem anderen Loch, und ordnete Körperschule an, ein Intensivtraining mit dreitägigem Muskelkater als Folge. Der Zweitkleinste und beinahe Schwächste der Klasse war flink und zäh, eine Niete im Kugelstoßen, doch behende die Kletterstange hinauf, und was er je gelernt hat im ungeliebten Geräteturnen, das bei diesem Mann. Geschwommen

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