Durch die Erde ein Riß. Erich Loest
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Allmählich schied sich die Spreu vom Weizen. Mit achtundzwanzig Jungen und acht Mädchen hatte diese Klasse begonnen, Ostern 1940 überstanden noch vierzehn Jungen und zwei Mädchen. Die anderen hatten die jeweiligen Ziele nicht erreicht, genauer gesagt: Die Schulleitung hatte den Eltern nahegelegt, ihre Kinder herunterzunehmen. Denn kein Lehrer gefährdete ohne Not den Ruf einer Familie, mit deren Mitgliedern er etwa der »Liedertafel« angehörte oder dem »Verein ehemaliger Realschüler«, mit denen er vielleicht selbst die Schule oder die Tanzstunde besucht hatte oder ihnen zumindest jeden Tag auf der Straße begegnen konnte. Etliche, die die Oberschule verließen, wechselten zur Handelsschule über; die Eltern argumentierten im Bekanntenkreis, ihre Sprößlinge seien nun einmal mehr fürs Praktische. Ein Kern hielt sich bis zum Abbröckeln lange vor dem Abitur.
Denn der Sommer 1939 brachte den Krieg, sein brüllendes Näherrücken bestimmte die Gespräche der Älteren. Alle Väter waren Frontsoldaten gewesen, kannten Hunger und Inflation – niemand sehnte sich nach Krieg. Zwei Tage lang schien es, als beschränke sich das Schlachten auf Polen. L. spazierte mit seinen Eltern an der Zschopau entlang, sie trafen Bekannte, die ihnen sagten, England und Frankreich hätten den Krieg erklärt. Da wurden die Gesichter seiner Eltern maskenhaft starr.
Wenige Tage später rückte der Vater ein. Er war zweiundvierzig und laborierte an der Galle. Es war klar: Die Mutter konnte das Geschäft nur eine kurze Zeit allein führen, es hätte ohne den Chef geschlossen werden müssen, die Familie wäre ohne Existenz gewesen. Aber nach zwei Wochen war der Vater wieder da, noch einmal wurde er im Herbst eingezogen und bewachte polnische Gefangene, die bei Wittenberg Rüben rodeten, dann gab er abermals sein Feldgrau auf Kammer ab und wurde nicht wieder behelligt.
In diesem heißen September, in dem Polen zusammenbrach, radelten Mittweidas Oberschüler täglich an die Talsperre, sie spielten Wasserhasche und Fußball bis zur Erschöpfung, manchmal lagen sie im Gras und schauten zu den Flugzeugen hinauf. Alle kannten alle Typen, Ju 52 und He III und die berühmte Me 109. Traurig waren sie, daß sie diesen Krieg nicht mitschlagen durften, sie waren ja erst dreizehn, vierzehn, und bis sie Soldat sein konnten, war zweifelsfrei alles längst vorbei. Vielleicht kamen sie zum nächsten zurecht? Aber der jetzige Krieg, so stand in allen Zeitungen, würde ja jedes Problem in Europa auf tausend Jahre lösen.
In diesem Herbst und Winter lagen die Straßen dunkel. Für einen Jungen, der vierzehn wurde und sich für Mädchen zu interessieren begann, waren die abendlichen Schattenspiele von romantischem Reiz. Unmassen von schwarzem Papier, Reißzwecken und Initiativen wurden für die Verdunklung verbraucht. Leuchtabzeichen tauchten auf, Buchstaben waren am beliebtesten; der erste Fliegeralarm war eine erschöpfend beredete Sensation. Jüngere Lehrer rückten ein, Pensionäre kehrten in die Schule zurück, die Disziplin lockerte sich. Immerzu war Anlaß, zu flaggen oder zu einem Gemeinschaftsempfang in der Aula zusammenzuströmen. Die Einschränkungen blieben erträglich, der Krieg war siegreich; nun, da er einmal da war, verlor er auch für die erfahrene Generation von seinem Schrecken. Man mußte mit dem Krieg leben und tat es. Deutschstämmige Umsiedler aus Bessarabien füllten eine Schule, sie zogen weiter auf geraubte Höfe nach Polen. Eine Lazarettbaracke wurde eingerichtet, manchmal brachten Mittweidas Hitlerjungen und BdM-Mädchen den Verwundeten Blumen und sangen und musizierten. Alle älteren Führer waren eingerückt, manche kamen auf Urlaub und berichteten, sie trugen Litzen und Orden, wurden Fähnrich und Leutnant. Im ›Mittweidaer Tageblatt‹ standen die ersten Anzeigen: Gefallen für Führer und Volk. Jüngere Führer rückten nach, in den Straßen dröhnten nach wie vor die Landsknechtstrommeln, durch die Wälder hallte das Kriegsgeschrei der Geländespiele. Sie waren ein Mischmasch von Germanenstrategie, Pfadfinderromantik und radebeulischer Indianerei, auf Cheruskergerangel aufgepfropfter blaublumiger Winnetou, und als tot galt, wem ein Wollfädlein vom Oberarm gerissen wurde. Manchmal entschied die größere Haltbarkeit der roten gegenüber der blauen Wollsorte ein Gemetzel; die Sieger trugen die Beutefäden, Lebensfäden triumphierend wie Skalpe am Hemdknopf heim in die Stadt, wo auf dem Marktplatz die Fahnen in den Torbogen eines Gasthofs hineingetragen wurden, denn darin lag das Jungvolkbüro, genannt Dienststelle, und dreimal grüßte ein Heil der lebenden und der toten Geländespieler den fernen Führer.
Die Konfirmation im Frühjahr 1940 verlief wie im Frieden, Geschenke türmten sich, nichts fehlte auf der Tafel. Er war in einem läßlichen evangelischen Christentum aufgewachsen, mit fünf betete er abendlich, mit sieben quälte ihn schlechtes Gewissen, wenn er es eine Woche lang vergessen hatte. Die Großeltern besuchten jeden zweiten Sonntag die Kirche, die Mutter folgte ihnen zweimal im Jahr, der Vater einmal in fünf Jahren. Das Verhältnis zur Kirche in dieser Familie war überständig und bröckelte ab; der Einfluß auf E. L. war immerhin so stark, daß er sich von der Konfirmation ein machtvolles inneres Erlebnis versprach, etwas Unerhörtes, nie Gefühltes. Nichts trat ein, die Konfirmation war eine tiefe Enttäuschung, und vom nächsten Tag an war er Atheist. Besser: Er war Untheist. Gott existierte für ihn nicht mehr, kein Glaube gab ihm Kraft; Religion oder Nichtreligion wurden ihm nie wieder zum Problem. Eine Zeitlang allerdings beneidete er die, die einen Gott besaßen, das war viel später, als er im Zuchthaus Bautzen ganz allein war, da hätte er Gott brauchen können. Aber kurzfristig läßt Gott sich nicht aufbauen, und er versuchte es auch nicht erst.
In diesem Frühjahr 1940 starb Gott für ihn. Der Führer lebte und war Gott genug, Erzengel Göring schickte seine himmlischen Heerscharen gegen britische Schiffe und Städte, und der Teufel war Churchill. Gottes Propheten hießen Prien und Galland, L. wußte alles über die Funktion eines Sturzkampfflugzeugs und die Bestückung der »Scharnhorst« und die Feigheit der Franzosen, die sich hinter der Maginotlinie verkrochen. In den Sommerwochen, da Frankreich stürzte, hörte er jeden Mittag heißen Herzens den Wehrmachtsbericht und steckte Fähnchen auf einer Karte, und wenn das Jungvolk durch die Stadt marschierte, gellten die Lieder der Saison: Bomben auf Engeland! Ein Winkel schmückte jetzt seinen Ärmel, denn er war nicht nur zum Jungenschaftsführer ernannt, sondern auch zum Hordenführer befördert. Kein Tropfen Ernüchterung fiel in diesen Rausch, den totale Propaganda schäumen ließ, nicht einmal die Sorge um einen Bruder, der jetzt etwa durch Frankreich keuchte oder auf einem U-Boot von Atlantikwogen gebeutelt wurde. Krieg aus der Wochenschau und über Radiowellen, siegreicher Krieg, der weit entfernt geschlagen wird, kann wundervoll sein.
Sommer und Mädchen, Filme und Schlager hatten ihren normalen Platz. Ein Leben lang kehrt die Erinnerung zum ersten Kuß zurück – haben da nicht Kirschbäume geblüht? Aber er küßte nicht in lauer Nacht, sondern unter Ausnutzung der Verdunklungsvorschriften. Er brachte sein jeweiliges Mädchen nicht nach Hause, nachdem sie in einer Milchbar die Händchen gehalten hatten, sondern zu der Heldenfeier am 9. November oder dem gemeinsamen Üben, wie man einen Verschütteten aus einem Keller befreit, oder zu einem Lichtbilderabend über die Trachten deutscher Volksgruppen in Siebenbürgen. Emsig genutzte Gelegenheit zum Flirt bot sich, wenn Jungvolkführer und Jungmädelführerin Schulter an Schulter fürs Winterhilfswerk mit der Sammelbüchse klapperten. Wenn heute im Radio ein Schlager aus dieser Zeit gespielt wird, bei den Namen Rosita Serano oder Zarah Leander schmettert und stampft in des Chronisten innerem Ohr das Engelandlied. Der Jungenschaftsführer Erich aus