Durch die Erde ein Riß. Erich Loest
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Immerzu wehte Wind. Nie wurde einer satt. Kenntnisse über den Kampf des Generals von Lettow-Vorbeck waren nicht gefragt. Wer konnte Schifferklavier spielen? Teddy hing die Hohner um und spielte, als hätte er sein Lebtag nichts anderes getan. Am nächsten Tag warf Teddy die Handgranate weiter als jeder andere, er war der Star des Lehrgangs. Und dann gab es noch diesen Herzkranken.
Nie wurde ein Roman über die Hitlerjugend geschrieben. Wer robust, hart im Einstecken und Austeilen war, kam mit den Bedingungen der HJ zurecht und fühlte sich bestätigt. Aber die Sensiblen, die Schwachen. Vielleicht so: Ein Herzkranker versuchte mit seiner Schwäche fertig zu werden, riß sich zusammen, der Herzmuskel riß, er starb im Augenblick des großen Glücks, da er es wenigstens einmal im Hindernislauf oder beim Boxen den Großen, Starken, Bewunderten und Beneideten gleichgetan hatte. Das wäre ein möglicher Nebenstrang in einem Roman oder auch eine selbständige Geschichte. Was wäre eine Fabel, die ins Zentrum traf? Jeder Schriftsteller plagt sich mit seinen eigenen weißen Flecken herum.
Er war ganz unten angelangt und merkte, wie demütigend es ist, am Boden zu sein, aber keine Sekunde lang kam er auf die Idee, ein System daran zu messen, wie es sich zu seinen schwächsten Gliedern verhielt. Unten war es gräßlich, also mußte er hinauf, und so meldete er am dritten Tag, er wolle am Zwanzigkilometermarsch teilnehmen. Der Gruppenführer nickte befriedigt: Da war einer, der den inneren Schweinehund besiegte.
Während dieses Marsches wurde er die Angst nicht los, zusammenzubrechen. Aber selbst wenn er hinschlug: Dann sahen wenigstens alle, daß er kein Simulant war, und wußten, daß er bis zum Umfallen gekämpft hatte, davor mußten sie Achtung haben. Nach zehn Kilometern fragte einer der ehemaligen Napola-Schüler, der künftige Waffen-SS-Führer: Geht’s? L. nickte. Und der Führer sagte: Na also! L. atmete gleichmäßig, horchte auf sein Herz, das gleichmäßig schlug. Alles schien gut, er war kein Krüppel.
Diese vier Wochen in Schneckengrün waren für L. auch in der Erinnerung eine solche Last, daß er zwölf Jahre danach, als er die Erzählung »Linsengericht« schrieb, seine erfundene Gestalt des Harry Hahn in Schneckengrün SS-Werbern in die Hände fallen ließ; später montierte er diese Szene in den Roman »Der Abhang« ein. Die Kiesgrube, an deren Hang die Werber ihre Opfer fertigmachten, übernahm er aus seiner späteren Erfahrung aus Zeithain.
Niemals mehr erwähnte er sein Herz, auch nicht, als sie bei kaltem Regen in einem Freibad in Plauen eine Viertelstunde lang schwammen, wie die Bedingung des HJ-Leistungsabzeichens es befahl; die Temperatur des Wassers lag bei zwölf Grad. Als er heimfuhr, glaubte er, er hätte ein Stück der Hölle hinter sich. Dachte er auch ein Jahr später, als er in Hartmannsdorf half, Zehnjährige auf ihre Eignung für die Nationalpolitische Erziehungsanstalt zu prüfen, an Schneckengrün?
Was auf dieser Welt, welcher Roman hätte die epische Breite eines Familienalbums? Im Krieg wurde selten fotografiert, Filme waren knapp. Immerhin wurde Fähnleinführer L. vor seiner Formation marschierend festgehalten, hinter ihm die Fahne, vor ihm die Trommler, die begeisterten Jungzugführer und die begeisterten Jungenschaftsführer und in Sechserreihen das unbegeisterte Fußvolk. Der Chronist nimmt die Lupe: Der da ist zwei Jahre später gefallen, keine andere Erinnerung an ihn gibt es als diese: Ein Junge, glatt, hübsch. Der da: Im Westen. Der da: Den traf er vor kurzem und dachte erschrocken: Ein alter Mann. Ein Familienalbum ist Wahrheit, Last, Druck. Man kann keine Hakenkreuzfahnen von Geburtshäusern holen. Klack – wieder ein Stern mehr auf der Schulterklappe. Klack – das HJ-Schießabzeichen an der Brusttasche. Klack – da sind einige aus seiner Klasse, Jahrgang 1925, schon Mitglieder der NSDAP. Von einem borgte er sich manchmal ein NSDAP-Abzeichen aus und steckte es an, wenn er einen Film sehen wollte, der für Jugendliche unter achtzehn nicht zugelassen war. Das fotografierte niemand.
2
Drei Häuser weiter wohnte der Kommunist Vogelsang mit Frau und Sohn. Ein letztes Mal Dr. Sauer: »Die KPD hatte sich von neuem organisiert. Aber unserer Geheimpolizei gelang es, Nest auf Nest auszunehmen und an Hand der gefundenen Aufzeichnungen die gefährlichsten Elemente des KPD-Geheimdienstes festzunehmen. Auch der aus Mittweida stammende Spitzenfunktionär Vogelsang, ein Beauftragter des Moskauer Zentralkomitees, wurde Mitte August 1933 in Berlin verhaftet. Er arbeitete mit gefälschten Pässen und Namen.«
L. sah ihn oft von der Arbeit kommen, eine zerbeulte Tasche unter dem Arm, aus der die Thermosflasche schaute. Das war schon während des Krieges. Hans Vogelsang war aus der Haft entlassen worden und arbeitete in einer Wattefabrik. Sein Sohn war Gefolgschaftsführer der Mittweidaer Marine-HJ, Mutter Vogelsang kaufte bei Loests ein. Wenn dort von Vogelsang die Rede war, hieß es: Ein Kommunist, aber einer von der anständigen Sorte. Vogelsang verrichtete seine Arbeit und hielt den Mund, etwas anderes blieb ihm nicht übrig. Wäre in Mittweida eine rote Fahne oder eine antifaschistische Parole aufgetaucht: In der nächsten Stunde hätte die Gestapo diesen Mann abgeholt. Hätte er auch nur einen politischen Witz erzählt, es wäre sein letzter gewesen. In den fünfziger Jahren wurde in Romanen und Erzählungen gern diese Szene abgewandelt: Ein verführter Jugendlicher lernt einen älteren Arbeiter kennen, der pfiffelt verstohlen niegehörte Töne, später stellte sich heraus: Es ist die Internationale. Dieser Mann erwirbt das Vertrauen des Jugendlichen, endlich fördert er aus einem Versteck eine zerlesene Schrift: Das kommunistische Manifest. Dem Jugendlichen gehen die Augen auf, gemeinsam schreiten sie in eine hellere Zukunft.
Er grüßte Herrn Vogelsang, wie ein Junge einen erwachsenen Nachbarn grüßt. Grüßte er mit »Heil Hitler!«? Eigentlich grüßte er immer mit »Heil Hitler!« und erhobener Hand. Wenn er es Herrn Vogelsang gegenüber tat, dann nicht, um zu provozieren. Wahrscheinlich nickte Herr Vogelsang zurück.
In Texten dieser Art fehlt nie die Erörterung, was und wieviel der Autor von KZ-Greueln gewußt hat, es gilt als moralisches Kriterium erster Ordnung. In diese Kindheit spielte von ferne der Begriff »Konzert-Lager« hinein. Dort wurden, so hörte er, Kommunisten umerzogen. Ein »Konzert-Lager« war in Sachsenburg, zehn Kilometer von Mittweida entfernt; es wurde bald aufgelöst. Wenn er um sein zehntes Jahr aufgefordert worden wäre, ein »Konzert-Lager« zu zeichnen, hätte er versucht, eine Blaskapelle darzustellen, im Karree standen Männer und hörten zu, am Rande wären da noch niedrige Häuser oder Zelte gewesen. Die Kapelle spielte gewiß einen Militärmarsch. Oder die Männer sangen ein erzgebirgisches Volkslied, vielleicht das vom Vuglbeerbaam. Dann gingen sie an die Arbeit, denn in diesen Lagern brachte man ja Kommunisten das Arbeiten bei. Herr Vogelsang war dort gewesen, nun war er wieder hier. Er war umerzogen, nun ging er morgens in die Fabrik und kehrte abends heim. »Heil Hitler, Herr Vogelsang!« Mit Frau Vogelsang hat er gelegentlich gesprochen, sie war eine kräftige Frau mit lauter, manchmal fröhlicher Stimme. In seiner Familie hörte er auch das: Wirklich anständige Leute. Als Herr Vogelsang im Lager gesessen hatte: Die arme Frau!
Aber vielleicht grüßte er diesen Mann mit »Guten Tag«? Denn in der Familie, im Haus und in der vertrauten Umgebung galten die alten Formeln. »Guten Morgen, Herr Vogelsang!« Hans Vogelsang hütete sich, die Internationale zu pfiffeln. Ein Problem oder gar ein Vorbild war er für L. nicht. Nach dem Krieg wurde er Bürgermeister von Mittweida, Landrat von Döbeln und Vorsitzender der SED-Parteikontrollkommission im Bezirk Leipzig. In dieser Eigenschaft verpaßte er dem Genossen L. im Herbst 1953 eine Rüge.