Durch die Erde ein Riß. Erich Loest
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Hin und wieder sieht der Chronist in einem Museum ein Fahrtenmesser. Blut und Ehre. Die grünweißen Schnuren sind damals wohl alle verbrannt.
III. Kleiner Krieg
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L. hatte zwischen 1947 und 1949 an Feierabenden und Sonntagen gelbgraues Papier, Rückseiten von Briefen und nicht genutzte Schulhefte mit Buchstaben bedeckt, hatte zaudernd vor sich, der Schwester, dem Vater und Freunden tapfer laut werden lassen, einen Roman schreiben zu wollen, hatte Erlebtes mit Gehörtem gemischt und so gut wie nichts erfunden, vielmehr seine Figuren Wege gehen lassen, die von ihm bekannten Menschen gegangen worden waren, und bei einem Drittel hatte er noch nicht einmal die Namen geändert. Rekruten, Unteroffiziere und Leutnants agierten in diesem Buch unter Namen aus der Wirklichkeit, bestenfalls änderte er Schlosser in Klempner, und es ist schwer begreiflich, daß diese Methode, einen Schlüsselroman zu schreiben und den Schlüssel steckenzulassen, kein Dutzend Beleidigungsklagen eingebracht hat.
Der Name der Hauptperson ist erfunden: Walther Uhlig. Ein Oberschüler ist das mit Eigenschaften, die L. gern nachträglich an sich gesehen hätte: Schlau, zäh, seinen Ausbildern geistig überlegen, ein trefflicher Schütze, gerissen in den Winkelzügen des feldgrauen Alltags, eifrig im Gefechtsdienst, sonst undiszipliniert, mehr Raufbold als Paradestück. Uhlig ist ein schnellerer Hundertmeterläufer, als sein Autor es je war, Uhligs Hauptkonflikt aber ist L.s Dilemma in diesem Ausbildungsjahr, und so gesehen, kann Uhlig für seinen Erfinder stehen.
Er rückte im März 1944 in Leipzig-Gohlis ein. Eine Ausbildungsformation von Reserve-Offiziersbewerbern wurde zusammengestellt, fast alle waren Oberschüler, alle HJ- oder Jungvolkführer gewesen. Was in diesem fünften Kriegsjahr von der Rüstungswirtschaft produziert wurde, ging an die Front, das Ersatzheer fuhr Reste und Abfall auf Verschleiß. Uniform- und Ausrüstungsstücke waren erbärmlich, die Kasernen heruntergewirtschaftet von immer neuen Schüben, die notdürftig ausgebildet und in Marsch gesetzt worden waren, seit vier Jahren unablässig nach Osten; wer ein weiteres Mal hier auftauchte, tat es auf dem Umweg übers Lazarett.
Nach einer Woche zog eine scheckige Schar zum Hauptbahnhof, in den Abteilen eines Personenzuges fuhren hundert junge Landser von einer Garnison zur anderen. Tornister oder Rucksäcke besaßen sie nicht, so klemmten sie Kartons unter den Arm, mancher hatte sich ein Kommißbrot mit Bindfaden ans Koppel geschnürt. Wie die Zigeuner rückten sie in Weißenfels ein. Vom nächsten Tag an waren sie Rekruten, die um fünf aus den Betten sprangen und abends um zehn todmüde hineinfielen, die nur eine Bewegungsart kannten, den Laufschritt, die das Gebrüll der Ausbilder und das Schrillen ihrer Pfeifen von früh bis spät hörten und die eine Gewißheit aufrechterhielt: In vier Wochen war die Grundausbildung vorbei. Sie waren ganz unten und wollten hinauf; wenn’s gutging, konnte jeder von ihnen in anderthalb Jahren Leutnant sein. Jetzt solidarisierten sie sich gegen den Hilfsausbilder, den Gruppenführer, den Leutnant. Wieder war diese Spaltung im Spiel, die L. in seinen Pimpfjahren und im Führerlager Schneckengrün durchlitten hatte, doch abermals begriff er sie nicht als Kehrseite einer Medaille, deren blanke Hälfte sein Ziel war.
L. wurde vereidigt auf den Führer. Jede zweite, dritte Nacht wurde von Fliegeralarm zerhackt. Auf anderen Kasernenhöfen sah er Soldaten in neuen Uniformen und ungefärbten Schuhen, sie wurden formiert für die Front. Wenn er gefragt worden wäre, ob er mit ihnen hätte ausrücken wollen, er hätte keine Sekunde gezögert. Die Front, sogar die Ostfront, erschien ihm als die Freiheit.
Und er wurde krank. Scharlach. Ein Sanka brachte ihn nach Zeitz ins Lazarett, dort schlief er tagelang fast ohne Pause, da war das Fieber vorbei. Heller Frühling war inzwischen. L. half in der Lazarettgärtnerei und übte sich in der Kunst des Skatspiels. Bomben fielen auf das nahe Hydrierwerk, Brandschwaden schwärzten den Himmel, verletzte Kriegsgefangene starben in der Baracke nebenan. Manchmal sah er einen Pfleger einen Eimer zum Kesselhaus tragen, darin lag ein halbes Soldatenbein, Erfrierungsopfer aus dem Rußlandwinter.
Als er sich endlich in Zeithain meldete, hatten seine Kameraden so mannigfache Tötungsarten erlernt, daß für ihn ein Aufholen unmöglich war. Noch einmal alles von vorn – seine Stimmung sank auf Null. Das aber wußte zu diesem Zeitpunkt keiner: Die Jungen, die mit ihm eingerückt waren, kamen gerade zurecht, um in Königsberg eingekesselt zu werden. Aus ihnen wurde eine Stoßformation gebildet, die Einbrüche abzuriegeln hatte, von ihnen sah kein Viertel die Heimat wieder. Scharlachbazillen zur rechten Zeit haben seine Lebenserwartung wesentlich verlängert.
Einige Tage saß er herum, bis Nachwuchs einrückte. Er hatte den Frischlingen einige Ausbildung voraus, der Zorn der Ausbilder richtete sich auf Langsamere, Ungeschicktere; ein Stückchen hatte er sich nach oben geschoben. Das eigentliche Waffenhandwerk fand er spannend und männlich. Aber die Disziplin. Da erklärte ein Feldwebel im Ballistikunterricht, das Geschoß würde nach dem Verlassen des Laufs eine Weile geradeausfliegen, bis Erdanziehung und Luftwiderstand die Flugbahn krümmten. Da behauptete L., dies stimme nicht, sofort wirkten diese Faktoren, schon im ersten Millimeterbruchteil. Der Feldwebel erläuterte seine Auffassung noch einmal, L. blieb hartnäckig, der Feldwebel jagte den Aufsässigen um den Block. Die Unteroffiziere waren rußlanderfahren, mehrfach verwundet, die meisten trugen Nahkampfspange und Eisernes Kreuz, sie sahen in L. einen Schnösel von der Oberschule, der sich über sie lustig machte. Diese Männer, meist Facharbeiter, waren zuverlässig und tüchtig auch, nachdem man sie als Soldaten verkleidet hatte, sie waren das Rückgrat der deutschen Wirtschaft gewesen und bildeten jetzt das Rückgrat der Armee, sie witterten versteckten Hohn eines Burschen, der sich womöglich sagte: In einem halben Jahr bin ich Unteroffizier wie ihr, in anderthalb Jahren Leutnant, und wer steht dann vor wem stramm? In »Jungen die übrigblieben« stellte der Autor Uhligs Haltung als inneren Widerstand eines Aufrechten dar, der sich gegen Ungerechtigkeiten aufbäumte und den die Kommißmaschine zu zerbrechen suchte. Da Antifaschismus nicht im Spiele war, da L. mit dem braunen und feldgrauen System so lange konform ging, wie er nicht auf der Schattenseite fror, muß der Chronist ergänzen, daß die Arroganz eines Burschen eingemischt war, der ein paar physikalische Gesetze begriffen und ein paar Fremdwörter gelernt hatte und sich einen Witz auch dann höchst ungern verkniff, wenn die Wirkung auf ihn zurückfiel. Im Roman:
»Und du? Und du selbst?«
Walther verstand, daß der Vater jetzt nichts von Schießleistungen, von seinem Stand beim Oberfeldwebel, von Märschen und Siruprationen hören wollte. »Ich selbst«, sagte er, zog den Rauch tief ein und ließ ihn aus der Nase hervorquellen. »Ich selbst, ja.« Dann plötzlich schnell, als wäre ein Damm gebrochen und eine schon lange gestaute und gepreßte Flut bräche sich Bahn: »Weißt du, Vater, mir fällt es manchmal schwer. Nicht das Marschieren, der Dienst, das Körperliche oder das bißchen Geistige, das verlangt wird. Sondern einfach das Jawohlsagen, das Gehorchen, das Strammstehen vor irgendeinem blöden Unteroffizier. Wenn du wüßtest, was es für mich bedeutet, so einem bloß die Schuhe putzen zu müssen! Ich putze meine eigenen nicht gern, und dann soll ich sie noch für einen solchen Trottel putzen! Und wenn der sagt: ›Hinlegen‹, dann muß ich mich in den Dreck schmeißen, und wenn der sagt, ›hier riecht’s so komisch‹, dann muß ich unter der Gasmaske japsen. Dabei können die Leute kaum ihren Namen schreiben. Das beste Beispiel ist mein Unteroffizier. Dauernd andere Weiber, dumm wie ein Hund! Und der hat das Recht, mich zehnmal vor der ganzen Abteilung schreien zu lassen: ›Ich bin das größte Rindvieh der 5. Kompanie!‹ Du kannst dir vorstellen, wie mich das rasend macht! Es gibt auch Leute, Vater, bei denen es mir nichts ausmacht, ihre Befehle auszuführen. Wir haben einen Oberfeldwebel, bei dem habe ich nie das Gefühl, mich zu erniedrigen. Dem würde ich vielleicht sogar mal freiwillig die Schuhe putzen. Aber die anderen …«
Das ist Uhligs