Durch die Erde ein Riß. Erich Loest
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Er eckte an, brachte seinen Leutnant zur Weißglut, sollte an die Front verbannt werden und wurde dann doch nur innerhalb Zeithains strafversetzt. Er war so auf Knallerei versessen, daß er Munition und Sprengmittel klaute; die Kompanie stand Kopf, als der U. v. D. eine niedliche 2-cm-Flakgranate unter seinem Kopfkissen und fünf Kilo Sprengmittel im Spind fand. Das brachte Strafdienst und dennoch heimliche Sympathie ein. Und siehe da, als die ersten sechs von sechsunddreißig Gefreite wurden, war er dabei. Einer seiner Kameraden hieß Rudolf Agsten. Stimmgewaltig schrie er bei Feierstunden vor dem angetretenen Bataillon zeitgemäße Verse, seine Spezialität war »Deutschland, erwache!« Viel später wurde er Generalsekretär der LDPD und Mitglied der DDR-Volkskammer.
Am Schwarzen Brett las L. von der Invasion in der Normandie. Einmal wurde die 24. Grenadierdivision im Mittelabschnitt der Ostfront lobend erwähnt; da gingen die Ausbilder mit zugesperrten Gesichtern umher, denn sie wußten: Nun lebte die Hälfte ihrer Kameraden nicht mehr. Das Attentat des 20. Juli, ein heißer Sommer, ein trockener Herbst, schließlich Weihnachten – kein General kam auf die Idee, nun sei genug geübt worden, und wo fast nichts mehr Friedensware wäre, bräuchte es auch keine friedensmäßige Ausbildung.
Zeithains Offiziersnachwuchs kannte nur einen Feind, den im Osten. Die Übungsanlage für den Häuserkampf hieß »Russendorf« und war gebaut mit Ziehbrunnen und eingegrabenen T-34-Kuppeln am Rand. Der Winter, auf den sich Zeithains Soldaten vorbereiteten, war der russische Winter, die Beutewaffen, mit denen sie hantierten, stammten aus Beständen der Sowjetarmee. Wer als »Feind« eingeteilt wurde, zog die Jacke verkehrt herum an und schrie: »Urräh!« Bei der Zielansprache hieß es: »Daumensprung links von Hausecke kriechender Iwan.« Ein sowjetischer Film über Scharfschützenausbildung lehrte Zeithains Jungkrieger das Fürchten. Kein Wort fiel, mit dem versucht worden wäre, den künftigen Gegner lächerlich zu machen. Der hatte seine Zähne längst gezeigt.
Die Fronten rückten näher, an Sonntagen belehrte L. nun schon Volkssturmmänner über die Panzerfaust. Im Februar noch hob er mit den Fremdarbeitern eines Dorfes ostwärts von Zeithain ein paar hundert Meter Schützengräben aus, denn die Sowjetarmee war bis zur Oder durchgebrochen. Vom frühen Morgen bis zum späten Abend treckten Flüchtlinge über die Chaussee; nach Tagen schaute er schon nicht mehr hin. Glaubte er, eine Armee, die von der Wolga bis zur Oder vorgestoßen war, könnte an seinem Graben gestoppt werden?
Am ersten März wurden er und zwei Dutzend seiner Kameraden nach Plauen versetzt. Jetzt war er Gruppenführer von zehn Jungen, von denen einige noch nicht sechzehn waren. Sie stammten vom linken Rheinufer, waren in Pommern beim Arbeitsdienst gewesen und zurückgespült worden. Sie waren schwächlich, immer müde; bei den Waffen der Großdeutschen Wehrmacht wurden Kindergrößen nicht geführt. Diese Jungen bekamen keine Post, bei ihnen zu Hause war schon der Ami.
Es war ein bildschöner März. Jeden Montag wurde Plauen gebombt, Flugzeuggeschwader paradierten über einen blanken Himmel und klinkten schulmäßig aus, dabei wurden sie von keinem Geschütz und keinem Jäger behelligt. Nach dem Angriff zogen Soldaten in die Stadt und versuchten zu retten und zu bergen. In die Kaserne floß weder Strom noch Wasser, die Klos wurden abgeschlossen, und einige hundert Landser entleerten sich in Latrinen jenseits des Zauns. Die Rationen wurden abermals gekürzt, nie mehr wurde jemand satt. Ein Gerüchtgespenst ging um: Plauens Soldaten sollten im Fußmarsch die Ostfront bei Görlitz erreichen, denn Transportmittel für ein paar hundert Soldaten gab es nicht mehr.
Da tauchte eines Tages ein Heldenwerber auf, ein Hauptmann mit dem Deutschen Kreuz in Gold und der Goldenen Nahkampfspange, und hielt eine Rede, die in der These gipfelte, noch seien die wundervoll kriegsentscheidenden Waffen nicht ganz fertig, eine winzige Spanne müsse der Feind noch hingehalten werden, diese Galgenfrist müßten die Jungen erkämpfen, die Unerbittlichen, Besten, Härtesten. Werwolf! Hagen von Tronje, Schlageter, Horst Wessel! Eine Woche, einen Monat noch, wir werden weitermarschieren, werden siegen, weil wir den Führer haben.
Da meldete L. sich, unter anderem weil er den Fußmarsch, Hungermarsch nach Görlitz fürchtete und weil er wußte, daß es keine Lebenschance für ihn gab, wenn gerade an seinem Abschnitt der russische Sturm losbrach. Noch einmal würde er ausgebildet werden und schließlich im Rücken des Feindes kämpfen, verschworen mit wenigen, die schlau und zäh waren wie er, auf deren Findigkeit es ankam, die die Initiative auf ihrer Seite hatten, hervorragend trainiert, bewaffnet und ernährt waren. Von Einmanntorpedofahrern hatte er gehört und von Kamikazefliegern, Old Shatterhand und Tarzan lockten, jetzt war die Stunde da, in der er sich bewähren konnte wie die Helden eines Lettow-Vorbeck, wie Graf Luckner, Max Schmeling, wie jener Pionier Klinke, der die Schanzen von Düppel gesprengt hatte. Der Heldenwerber fragte: Wer stammte aus dem Elsaß, aus Oberschlesien, der Zips, dem Banat? Wer sprach polnisch, flämisch, eine baltische Sprache? Die meisten waren Sachsen und Egerländer, da suchte er die heraus, die ihm am sportlichsten erschienen.
Für die Ausgewählten war der Dienstalltag vorbei. Sie wurden neu gekleidet, einen Tag lang liefen sie eitel in hellbraunen Schuhen umher, dann schmierten sie sie schwarz. Montags grollten wieder die Bomber. Der Wehrmachtsbericht meldete schwerste Kämpfe um Danzig, in Pommern, Kurland und an der mährischschlesischen Grenze. Berlin brannte. Eine Zuteilungsperiode wurde von vier auf fünf Wochen gedehnt. Auf das Feld vor der Kaserne sank ein Flugblatt, in ihm stand, die Hungerrationen von 1918 wären höher gewesen als die vom März 1945. In einigen Tagen also war er Werwolf. In Gedanken öffnete er seinen Spind, der konnte die Konserven kaum fassen.
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Für sein Leben gern war er Moralist. Bei abendlichen Wegen mit einem Freund hatte er es als Höhepunkt an Offenheit und Klarheit empfunden, wenn er aussprach, was er von diesem Freund hielt, und hörte, was er selbst galt. Seine größte Angst war, er könne für feig gehalten werden. Immerzu wünschte er, jemandem das Leben zu retten; sein Alptraum: Ein Kind war von Flammen eingeschlossen, er wußte, daß er selbst kaum eine Chance besaß, aber er mußte es herausholen, um sich nicht ins Gesicht spucken zu müssen. Dabei kam er um. Das Begräbnis hatte er sich bildstark ausgemalt. Der Grabstein: Granit. Nichts auf ihm als sein Name.
Sie waren sechzehn zukünftige Werwölfe und hockten an den Wänden eines Waggons, der nach Süden rollte. Das Gegengleis war mit Zügen voller Kriegsmaterial und Flüchtlingen verstopft; sie standen ohne Lokomotiven. Es war ein heller Frühlingstag mit einem unendlichen Himmel und klarer ruhiger Luft. Meist blickten die sechzehn nach Osten, denn dorthin mußten und wollten sie, von dort drängte die Front auf sie zu. Am Horizont vermuteten sie Wolken, merkten, daß es ein Gebirge war, und einer mutmaßte, das wären die Kleinen Karpaten. Da sprach keiner mehr.
Malacky, der Zug hielt, auf einmal war Stille um sie, sie lauschten nach Osten und in den Himmel hinauf; die Stille blieb, die Gefahr schien weit. Der Gefreite, der die Marschpapiere trug, war selbst nicht überzeugt, daß er durch sie Befehlsgewalt besaß. Jemand fand eine Verpflegungsstelle, wo man am Packen war und Knäckebrot und Leberwurstbüchsen wegschenkte. Ihr Marschbefehl wies sie an, bis Zohor hinunterzufahren und im Winkel nach Jablonove hinauf, aber die slowakischen und deutschen Eisenbahner schüttelten die Köpfe: Dorthin fuhren keine Züge mehr. L. sagte: Wir marschieren los, weit kann’s nicht sein. Da unkte jemand, dort, wohin sie sollten, wäre bestimmt schon der Iwan, dann klügelte einer, unter solchen Umständen könne man an Ausbildung nicht denken, aber sie sollten ja auf dem Truppenübungsplatz Türkenberg ausgebildet werden, und der zuerst einwarf, sie kehrten am besten nach Plauen zurück, hieß Knauthahn.
Debatte: Wir haben den Befehl, aber es hat doch keinen Zweck, warum habt ihr euch freiwillig gemeldet, verdammt unklare Lage, da könnt ihr mal zeigen, was in euch steckt, es geht doch nicht nach dir, nach dir schon lange nicht! L. fühlte Wut in sich aufsteigen, und den Ausschlag gab der Gedanke, Feigheit könnte Knauthahn und einige andere zu ihren Ansichten treiben. Große Schnauze in Plauen, aufgesprungen und die Hacken geknallt und die Brust gereckt, jawohl, ich will im Rücken