Durch die Erde ein Riß. Erich Loest
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Durch die Erde ein Riß - Erich Loest страница 17
Mittags stieg er in Komotau vom Rad und schob es auf den Kamm des Erzgebirges hinauf. Einmal marschierten ihm Männer in Parteiuniform entgegen, Spaten und Hacken geschultert, sie hatten Panzersperren gebaut. Da fühlte er sich beklommen: Man rechnete also damit, der Feind könnte bis ins Erzgebirge vordringen? War es dann nicht gleichgültig, ob er von Ost oder West kam? Kein schlechtes Gewissen packte ihn, daß er sich Urlaub nahm, er hatte ein Argument: Jedem Soldaten, der an die Front geschickt wurde, stand Abstellungsurlaub von vierzehn Tagen zu. Niemand konnte ihm jetzt diesen Urlaub bewilligen, folglich nahm er ihn sich selbst.
Vier Stunden lang schob er sein Rad, es wurde Nachmittag darüber. Keilberg und Fichtelberg sah er zur Linken und blickte zurück in die Weite des Egertals. Wind strich hier oben, bald mußte er die sächsische Grenze erreichen. Zwei Polizisten lungerten an der Straße, fragten, woher er komme, wohin er wolle, grämliche ältere Männer, offenbar gesonnen, ihr Scherflein zum Endsieg beizutragen, indem sie einen Deserteur schnappten. Eine neue Geschichte erfand er: Im Egertal wäre der Verkehr zusammengebrochen, denn bei Falkenau hätten die Amerikaner am Mittag eine Brücke zerbombt. Er schlage deshalb einen Bogen über das Gebirge, um von Chemnitz aus mit dem Zug weiterzufahren. Da forderten die Polizisten ihn in ihr Dienstlokal, und als sie sich in der Polizeiwache von Sebastiansberg gegenübersaßen, probierte einer von ihnen einen läppischen Trick: »Sie sind am dritten März fünfundzwanzig geboren?« – L. fühlte sich obenauf: »Am vierundzwanzigsten Februar sechsundzwanzig.« Er beantwortete Fragen nach seiner bisherigen Einheit, dem Tag seiner Einberufung. Aber da hakten sich die Polizisten fest: Er stamme aus Mittweida, seine Eltern lebten dort? Und dorthin wolle er? Sein Wunsch sei logisch, verständlich. Aber er ging ihnen nicht auf den Leim, sondern beharrte auf seiner Geschichte: Nach Chemnitz wolle er, es führe kein anderer Weg nach Bayern. Aus dem Isergebirge komme er, er sei Werwolf und wolle in seinen neuen Einsatzraum. Eine halbe Stunde lang hin und her, Mittweida oder nicht, dann gaben die Polizisten klein bei: »Wir können Ihnen nichts beweisen.« Er bekam sein Soldbuch zurück und stieg aufs Rad, kreuzte die sächsische Grenze, kaute Speck und trank Wasser aus einem Bach. Er jagte nach Marienberg hinunter, beneidete Gietzel: Der saß längst zu Hause; fürchtete, die Polizisten von Sebastiansberg könnten ihre Kollegen in Mittweida benachrichtigen: Paßt auf, ob ein gewisser Loest kommt! Er trat in die Pedale, das Kinn auf den Lenker herunter, Heimfahrt, Friedensfahrt. Leer lagen die Straßen an diesem Abend, kein Auto traf er und keine Streife. Auf der Höhe von Dreiwerden hielt er an. Ohne Verdunklung in dieser Kriegsnacht hätte er jetzt die Lichter seiner Heimatstadt gesehen.
In dieser Nacht flogen britische Bomber über Mitteldeutschland und weckten Sirenen auch die Bewohner Mittweidas. Manche gingen in die Keller, manche traten vor die Häuser, horchten, schauten, andere blieben in den Betten. Alfred Loest stellte sich vors Haus, begrüßte Schatten, die aus den Nebenhäusern traten. Schein am nordwestlichen Horizont: Espenhain, Böhlen, Leuna, dort fielen Bomben wie in vielen Nächten. Da schob jemand ein Fahrrad neben ihn und sagte: »Guten Abend, Herr Loest.« Keine Verwunderung, kein Erkennen, Alfred L. erwiderte den Gruß, hörte das Entwarnungszeichen und wandte sich seinem Haus zu. Er konnte die Tür nicht schließen, das Vorderrad eines Fahrrades klemmte dazwischen.
Zwei Stunden lang saßen sie am Tisch, Vater, Mutter, Schwester und der heimgekehrte Sohn. Umarmungen, Muttertränen. Hastiger Bericht, hastiges Essen, dann versteckte der Vater Fahrrad, Karabiner und Handgranaten. Erst mal ausschlafen, morgen in Ruhe beraten – ihn hatte niemand gesehen? An die Polizisten von Sebastiansberg dachte der Gefreite L., wog die Gefahr und achtete sie gering gegenüber dem Glück, zu Hause zu sein. Er beruhigte sich: Die Polizisten hatten seinen Namen und die Adresse seiner Eltern nicht notiert und würden den Diensteifer nicht auf die Spitze treiben. Dies hoffte er so stark, daß es ihn vor tödlicher Gefahr blind machte; in diesen Tagen wurden Soldaten wegen geringerer Vergehen gehenkt.
Am Morgen erwachte er: seine Dachkammer, seine Bücher, das Schlagen der Kirchenuhr, kein U. v. D. pfiff. Danach hatte er sich ein Jahr lang wie nach nichts anderem gesehnt. Später stand er in der Eisenwarenhandlung seines Vaters; die Regale waren in sechs Kriegsjahren kahl geworden. Er bummelte durch die Stadt; sie hatte sich so verändert, daß sie nicht im entferntesten hielt, was sie in der Erinnerung versprochen hatte, als er durch Zeithains Sand gerobbt war. Zu Hause aßen Vater, Mutter und Schwester dünner gewordene Suppe von gewohnten Tellern. In die Schule waren Flüchtlinge gepfercht worden, das Jungvolk hatte seinen Dienst infolge Fehlens von Führern, Räumen und Schuhen eingestellt. Einmal ging er ins Kino, da heulten nach zehn Minuten die Sirenen. Der Wehrmachtsbericht: Amerikaner und Briten stießen in Thüringen und Norddeutschland vor. Hannover fiel. Einmal traf er ein Mädchen, mit dem er die Tanzstunde besucht hatte; das Mädchen fragte ihn, ob der Krieg noch gewonnen würde, und er antwortete verzweifelt, er müsse ganz einfach gewonnen werden. Sie waren zusammen Schlittschuh gelaufen und hatten sich auf vielen Wegen geküßt. Keine Erinnerung daran. Ihre Hände hingen herab. Das Mädchen fragte ihn, ob er bliebe, aber er sagte, er müsse wieder fort. Es wäre ihm gleichgültig gewesen, hätte es in dieser Minute sein müssen.
Am fünften Morgen wurde er von seinem Vater geweckt: Die Amerikaner standen vor Leipzig. Hastiger Familienrat: bleiben, untertauchen? Aber er war in der Stadt gesehen worden. Gefahr durch Amerikaner, durch Feldgendarmerie, welche war größer? Rat des Vaters: Am sichersten bist du in deiner Einheit. Von der Art dieser Einheit hatte E. L. wohlweislich nichts erzählt. Wieder setzte er sich aufs Rad und fuhr übers Gebirge, diesmal in die andere Richtung. In der Nähe von Chemnitz sah er zu, wie Tiefflieger die Straße leer fegten. Er lag im Graben und dachte: Hannover gefallen, die Amerikaner vor Leipzig, noch werden die neuen Waffen nicht eingesetzt – sind sie immer noch nicht fertig? Jetzt noch einmal die Entscheidung von Malacky wäre er wieder zum Türkenberg gegangen? Er schlief in einer Scheune, stieß am Morgen in den böhmischen Kessel hinab und traf Gietzel in der elterlichen Küche inmitten spielender kleiner Geschwister an. Auch hier Debatte, ein wichtiges Moment darin: Sie hatten sich beide freiwillig gemeldet zum Werwolf, waren zusammen zum Türkenberg gezogen, jetzt riefen sie sich das gegenseitig ins Bewußtsein. Sie hatten beileibe nicht aus dem Krieg aussteigen wollen, hatten sich nur Urlaub gegönnt, der ihnen zustand. Vor sich selbst konnte jeder allenfalls vergessen, wie er in Plauen gelobt hatte, Einzelkämpfer zu werden, Durchhalter bis fünf Minuten nach zwölf. Hier stand nun einer, der dabeigewesen war, keiner wollte als erster sagen: Müssen wir so schnell nach Schönsee? Denk an die beiden in Prag!
Wieder Abschied. Am Bahnhof warteten Gietzel und L. auf einen Zug nach Westen. Dünnen Kaffee schenkten BdM-Mädchen aus, dann lief der Zug ein, ein Katastrophenzug, vollgepfropft mit Menschen und Koffern und Angst, in ihn hinein zwängten die beiden Durchhalter sich und ihre Räder. Aus allen Fenstern suchten Augen den Himmel ab, langsam rollte der Zug durch Komotau, Klösterle, Karlsbad. Dahinter bremste der Zug ruckend und kreischend, Dampf quoll aus der Lokomotive, über die Trittbretter ergoß sich der Strom der Flüchtenden, die hin- und hergerissen wurden zwischen zwei Ängsten: von Tieffliegern getötet zu werden oder ihren Platz bei der Rückkehr besetzt zu finden. Ein Flugzeug strich über den Zug hinweg, eine der letzten Maschinen von Görings Luftwaffe, eine erbärmliche Krähe, und die Menschen in den Feldern ringsum fluchten auf den Idioten da oben, der ausgerechnet einen Zug in diesen Tagen der Tieffliegerpanik ansteuern mußte. Sie rannten zum Zug zurück, aber der fuhr nicht weiter, denn der Lokomotivführer hatte sich beim Sprung von der Maschine den Fuß verstaucht, vielleicht gebrochen. Nach einem Arzt wurde geschrien, und als L. und Gietzel merkten, daß es hier nicht vorwärts ging, hoben sie ihre Räder herunter und traten weiter nach Westen.
Die nächste Nacht verbrachten sie in einem Schuppen auf einem Bahngelände. Soldaten saßen in der Schuppenmitte um ein sparsam und kunstvoll unterhaltenes