Durch die Erde ein Riß. Erich Loest
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Читать онлайн книгу Durch die Erde ein Riß - Erich Loest страница 19
An diesem Tage aßen sie, was sie in ihren Brotbeuteln gerettet hatten; davon wurden sie nicht satt. Immerfort kreisten ihre Gedanken um das Thema, wer der Mann gewesen war, der sie aufgefordert hatte, sich zu ergeben, und woher er ihre Namen kannte. Als es Abend wurde, packte sie Verzweiflung: Noch solch eine Nacht würden sie nicht überstehen. Zwei Wege schienen möglich: versuchen, in einem Dorf unterzukriechen oder sich ins Lager zurückzuschleichen, zu vertrauen, daß die Amerikaner abgezogen waren, ihr Loch nicht gefunden oder nicht alles mitgenommen hatten. Sie entschieden sich für das Dorf.
In der Dämmerung schlichen sie über harte Schollen heran. Einen Mann hinter einem Schuppen fragten sie nach Amerikanern. Es wären Panzer durchgefahren, jetzt wären keine mehr hier. Konnten sie die Nacht über bei ihm bleiben? Der Mann schüttelte den Kopf, das riskierte er nicht. Aber drei Häuser weiter wohnte der Ortsgruppenleiter der Volkswohlfahrt, dort sollten sie klopfen.
Entsetzen trugen sie in dieses Haus. »Laßt die Waffen draußen!« rief der Mann, »bloß nicht die Waffen ins Haus!« Er flehte sie an, wieder zu gehen, ihn nicht ins Unglück zu stürzen, ihn und seine Familie. Dann packte ihn Mitleid: Aufwärmen sollten sich die Jungen rasch und etwas essen, dann um Christi willen verschwinden. Die Frau sagte: »Ich hab gerade gebuttert.« Sie sah Jungen vor sich, dachte an ihre Jungen draußen im Krieg, hoffte, eine andere Mutter würde sich ihrer annehmen, wie sie sich dieser Jungen annahm. Sie zog den Kaffeetopf aus der Ofenröhre, schnitt Brot ab und strich Butter auf, und die beiden aßen, aßen, fühlten noch nicht einmal den Beginn einer Sättigung. Die Frau hatte vier Jungen geboren, einer war gefallen, einer in England in Gefangenschaft, zwei waren irgendwo. Die Frau schnitt noch immer Brot ab, strich Butter auf, Gietzel sackte über dem Tisch zusammen. Da kapitulierte der Mann: »Ich verstecke eure Waffen. Bleibt auf der Ofenbank. Ehe es hell wird, wecke ich euch.«
»Hoffentlich«, sagte L., »fällt in dieser Nacht kein Schnee, damit unsere Spuren Sie nicht verraten.« Er dachte: Hoffentlich fällt Schnee.
Es schneite in dieser Nacht. Es war noch nicht hell, da führte der Mann sie auf den Boden und bedeckte sie mit Heu. Den ganzen Tag über schliefen sie einen Erschöpfungsschlaf, nur einmal weckte der Mann sie, brachte ihnen Knödel und Fleisch und berichtete, was er im Radio gehört hatte: Hitler war im Kampf um Berlin gefallen. Das galt den beiden als furchtbare Nachricht, nun war alles aus. Der Führer war unsterblich gewesen, nun war er tot. L. malte sich ein Blut- und Brandgemälde: Der Führer feuerte mit einem Maschinengewehr aus einem Fenster der Reichskanzlei, fiel durch Kopfschuß. Die Welt, wie L. sie gesehen hatte, stürzte zusammen. Der Führer war tot, er selbst lebte – nie hatte er geglaubt oder gar sich vorgestellt, dies könne geschehen. Unter Heu lag er, satt, gesund, fror nicht. Regungslos lag er, als müsse nun alles auf der Welt erstarren. Erst war es so still, als läge er wirklich im Grab, als wäre die ganze Welt ein Grab. Dann hörte er Schritte auf dem Hof, eine Frau rief einer anderen Frau etwas zu, er glaubte, sie müsse rufen, daß der Führer tot wäre und daß sie nun auch alle sterben würden. Aber von Eiern war die Rede, eine Tür klappte zu, eine Milchkanne schlug an. Er bewegte die Zehen, sie ließen sich bewegen. Er mußte austreten, das drang allmählich in sein Hirn. Er mußte enorme Energien aufwenden, Heu von sich zu schieben, sich in einen Winkel zu schleppen und die Hose aufzuknöpfen. Sein Wasser lief an einem Balken hinunter, also lebte er. Im Hof wurde ein Pferd angespannt, das ging nicht ohne Ärger ab. Er knöpfte die Hose wieder zu und kroch ins Heu. Ihm dämmerte, daß er nun ganz auf sich gestellt war.
Im Abenddunkel verließen die Werwölfe das Haus. In der Nacht beobachteten sie im Osten Mündungsfeuer und zählten die Sekunden, bis der Schall an ihr Ohr drang: Weiter als fünfzehn Kilometer war die Front nicht entfernt. Sie schlichen zurück ins Tal und überquerten den Weg, auf dem der Bauer die Kuh getrieben hatte, lauschten, hörten nichts. Eifrig flüsterten sie sich zu: Die Amerikaner mußten abgezogen sein. Trotzdem nahm ihre Erregung zu, je näher sie dem Dickicht kamen, in dem ihr Loch lag. Sie pfiffen wie die Kohlmeisen, niemand antwortete, sie krochen Meter für Meter weiter, jeden Augenblick bereit, Feuer zu erwidern. Ihre Tarnanzüge lagen noch so, wie sie sie hingeworfen hatten, daneben Rucksäcke, Decken und Fleischbüchsen. Noch vor Morgengrauen brachen sie einen Vorratsbunker auf und schleppten Büchsen, Knäckebrot und Heidelbeergläser seitab. Einen Tag lang aßen sie so viel, wie sie vermochten; umsichtig packten sie ihre Rucksäcke, leid tat es ihnen um die Zentner an Lebensmitteln, die hier verdarben.
Wieder stiegen sie den Plösser Berg hinauf, spürten den Höhenwind. Sie fanden einen Weg, der abwärts nach Osten führte; die Luft wurde linder, je weiter sie ins Tal kamen. Als es dämmerte, krochen sie in ein Dickicht, zogen Zweige über sich, ängstigten sich: Hunde konnten sie aufspüren. Aber sie waren zu erschöpft, als daß einer gewacht hätte. Manchmal schoß Artillerie, das Mündungsfeuer war noch immer zehn oder fünfzehn Kilometer entfernt. Sie redeten über den Führer, der nun schon lange tot war, der kein Gott gewesen war und sie im Stich gelassen hatte. Sie nannten ihn auch nicht mehr den Führer, sie nannten ihn Hitler, und die kühle Respektlosigkeit paßte zu ihrer Lage. Sie waren also keineswegs tot, sie wollten nach Hause, am liebsten in den Mutterleib zurück. Ein paar Tage noch würde sich nun der Krieg hinschleppen, diese Tage mußten sie überleben. L. stellte sich vor, wenn ihn die Amerikaner fingen, brächten sie ihn nach Italien, und er müßte im Hafen von Brindisi in glühender Hitze Kohlesäcke von Bord eines schwarzen Schiffes schleppen. Also nach Hause! Mit der gleichen Hartnäckigkeit hatte er vor Wochen zum Türkenberg gewollt. Das war tausend Jahre her.
In der nächsten Nacht zogen sie durch ein Dorf, in dem ein Amerikaner in einer offenen Haustür lehnte; schwaches Licht leuchtete in seinem Rücken. Er redete sie an, sie gingen schweigend weiter. In einem anderen Dorf hatten Amerikaner einen Gutshof hell erleuchtet, es klang, als ob sie darin Fahrzeuge reparierten. Hundert Meter davor verließen L. und Gietzel die Straße, hundert Meter dahinter kehrten sie darauf zurück. Immer wieder berieten sie, in welchem Fall sie schießen und in welchem sie sich ergeben sollten. Das Wasser, in dessen Tal sie blieben, hieß Radbusa, und der Ort, über dem sie eines Morgens ins Dickicht schlüpften, vermutlich Hostau, das heutige Hostoun. Gegen Mittag krochen sie an den Waldrand vor und blickten in eine Mulde, drüben stiegen bewaldete Kuppen auf – sie waren aus dem schrofferen Teil des Gebirges heraus. Unten rollten Lastwagen, weit weg landete eines dieser kleinen Flugzeuge, die am Tag über die Wälder strichen. Den Nachmittag über schauten sie zu, wie die Amerikaner Panzer und Geschütze auffuhren, wie dort, wo die Straße im Wald verschwand, Granaten einschlugen und Rauchpilze aufstiegen. Schützenpanzer rollten vor, Infanteristen stürmten; allmählich trat Ruhe ein, die Sperre war durchbrochen. Das alles sahen sie wie von einer Theaterempore aus. Da hofften sie, die Amerikaner würden nicht allzu weit vordringen, ehe die Dunkelheit sank.
An diesem Abend konnten sie es nicht erwarten, aus ihrem Gebüsch zu kommen. Schon während des Sonnenuntergangs verschnürten sie ihre Rucksäcke, wobei sie alberten, Kameramänner einer Propagandakompanie müßten diese Szene drehen: Werwölfe machten sich auf zu heldischem Nachtwerk.
Sie mühten sich nicht einmal, die Höhe zu umgehen, auf der am Nachmittag das Gefecht gezuckt hatte, zwischen beiseite gezerrten Stämmen marschierten sie hindurch. Im nächsten Dorf klang Trubel aus einem Gasthof. Sie schlugen einen Bogen, marschierten, marschierten. Sie dachten, sie müßten irgendwann auf amerikanische Vorposten und später auf die der Deutschen stoßen, wenn sie auch nicht annahmen, es würde etwas geben, das einer geschlossenen Front ähnlich sah. Am Ortsschild von Bischofteinitz vorbei klirrten sie in die schlafende Stadt hinein, sahen weiße Tücher an allen Häusern, es war Sonntag, der 6. Mai 1945. Auf dem Marktplatz sahen sie im ersten dünnen Dämmern Shermanpanzer, Lastautos, Jeeps, keinen Posten dabei. So groß ihr Schreck war, L. griff doch in einen Jeep hinein und riß eine Packtasche heraus, sie rannten los, wollten hinaus aus der Stadt, irgendwo mußte Wald sein, und den mußten sie erreichen, ehe es tagte. Unfaßbar: Die Amerikaner hatten ihre Fahrzeuge auf den Platz gestellt ohne eine Wache daneben und schliefen in den Häusern. Durch eine Siedlung von Einfamilienhäusern hasteten sie,