Durch die Erde ein Riß. Erich Loest
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Natürlich hatte Knauthahn mit diesem Argument gerechnet. Er errötete, weil er nach dem Brauch seines Alters und seiner Erziehung hätte zuschlagen müssen, aber das war hier unmöglich, und so maulte er, sie hätten ja nicht einmal Waffen, aber L. konterte lässig, die würden sie schon irgendwo finden. Er hätte jetzt gern gewußt, ob er wirklich allein auf diese Berge zu marschieren mußte, er sehnte sich fast danach, wenn er auch wahrscheinlich vor Wut geheult hätte, aber jetzt gab es kein Zurück mehr. Drei Jahre später erfand er bei einer seiner häufigen Darstellungen die Variante, er hätte gerufen: »Ich gehe zum Türkenberg, und wenn aus jeder Pfütze ein Russe züngelt«, aber so blumig drückte er sich nicht aus, er war bleich und schwitzte vor Aufregung und Zorn, doch das legte sich, als einer vorschlug, jeder solle sagen, wohin er wolle, vor oder zurück, Türkenberg oder Plauen. Immerhin schlugen sich vier auf L.s Seite; Fritz Gietzel, von dem hatte er es nicht anders erwartet, Steinbach, zwei andere, auf deren Namen sich der Chronist nicht zu besinnen vermag, und diese beiden verdienten vor allem, daß er ihre Namen wüßte. Einer stammte aus Heidenau bei Dresden, der andere aus dem Thüringer Wald, einer war blond und großnäsig und immer mit der Klappe vorneweg, der andere dunkel und bedächtig, er merkte erst nach einer Weile, wenn man ihn aufzog, nie nahm er etwas übel. Elf fuhren zurück in Richtung Plauen, neun kamen dort an, zwei fielen im Fichtelgebirge im Kampf gegen die Amerikaner. Knauthahn war nach dem Krieg Gewerkschaftssekretär, und auf Leipzigs Straßen trafen sich L. und Knauthahn 1950 und hieben sich auf die Schultern: Mensch, wie bist du durchgekommen, Junge? Und 1973 trafen sie sich noch einmal in Berlin und erkannten sich zu ihrer gewaltigen Verwunderung und erzählten sich, daß ihre Kinder nun schon verheiratet wären, und Knauthahn war durch einen Herzinfarkt aus der Bahn geworfen. Aber in Malacky, am 2. April 1945, da sagten sie Feigling und Idiot zueinander und hatten beide recht, wobei Knauthahn von kluger Feigheit war und L. von heldischer Idiotie, und dann marschierten fünf Tapferkeitssüchtige eine schlechte Straße entlang nach Osten, sahen Frühlingsgras an den Seiten, Kühe und pflügende Bauern, glaubten kriegsverdächtige Laute zu hören: Grollen über den Bergen wie Gewitter, aber dort standen keine Wolken, und so begriffen sie: Zum erstenmal in ihrem Leben hörten sie die Front. Da waren Dutzende Millionen Menschen schon tot, da waren Fronten über Hunderte Millionen hinweggerollt, da lebten immer noch fünf Kerle in Europa, die die Front nie gehört hatten und meinten, sie müßten dorthin.
Hatten diese fünf nichts gelernt in Geschichte und Geographie, besaßen sie nicht einen Funken gesunden Menschenverstand? Dachten sie, eine Armee, die von der Wolga bis hierher vorgedrungen war, könnte an der March aufgehalten werden? Meinten sie, Armeen, die in der Normandie aus dem Meer gestiegen waren, wären zu stoppen an Werra und Fulda? Diese fünf klammerten sich an dumpfe Hoffnungen, weil sie sich nicht vorstellen konnten, was sein würde, wenn Hitlerdeutschland den Krieg verlor. Sie fürchteten noch nicht einmal Gefangenschaft, Elend, Hunger, Austreibung, für sie war die sieglose Zukunft absolute Schwärze, sie würden nicht sein, nichts würde sein. Deshalb mußte ein Wunder durch Wunderwaffen geschehen; sie siegten, weil sie den Führer hatten. Manchmal hatte L. schaudernd gedacht: Dann alles noch mal von vorn, noch mal Frankreichfeldzug und Marsch zum Ural. Bis die neuen Waffen heulten, mußte der Feind hingehalten werden, in den Kleinen Karpaten und überall, und als Schwein galt ihm, wer sich jetzt drückte.
Die Berge stiegen sanft an mit Buchen und Eichen, die Straße führte in einem Bachtal aufwärts, in eine Senke waren Kasernenblöcke eingeschachtelt, vor ihnen stand ein Hauptmann und sagte: »Da könnt ihr uns ja gleich helfen, den Türkenberg zu verteidigen.« Nichts von Lehrgang; Wirrwarr überall, in wüsten Kammern rüsteten sich die fünf aus mit Tarnjacken und ungarischen Gewehren, denen sie gründlich mißtrauten. Sie fanden Berge von Konserven mit jungen Erbsen und fast nichts Eßbares sonst, und jemand teilte sie ein, während der Nacht den Durchgang in einer Minensperre zu bewachen und die hindurchzuschleusen, die noch von Osten kämen. Sie standen zwischen Landsern, die die Fußlappen abwickelten, unter ihnen brannte rohes Fleisch, sie hörten von Rückzug über zwanzig, dreißig Kilometer jeden Tag, und einem wurden die Schultern geklopft, weil er einen Panzer abgeschossen hatte; er war grau im Gesicht und zu Tode erschöpft.
Kalt war die Nacht an der Minensperre und stockdunkel, niemand kam. Am nächsten Morgen erfuhren sie, die Nahkampfschule würde nach Schönsee in der Oberpfalz verlegt, aber vorher müsse hinhaltender Widerstand geleistet werden bis zu einer Auffangstellung an der March. Jeder bekam einen Marschbefehl nach Schönsee und ein Fahrrad. L. schnallte eine Panzerfaust ans Rad und einen Beutel mit Erbsenbüchsen auf den Gepäckträger, so kurvte er nach Jablonove hinunter.
An diesem Tag fiel kein Schuß. Am Abend faßte ein Feldwebel ein Dutzend Soldaten zusammen, die auf einen Hügel vorgeschoben werden sollten; der Feldwebel fragte, wer das Maschinengewehr nehmen wollte. Nun war L. während der Ausbildungszeit ein versierter MG-Schütze gewesen, ein Fuchs in der Bedienung dieser Waffe, hatte sie monatelang durch Zeithains Sand geschleppt und die Pappkameraden das Fürchten gelehrt. Was natürlicher, daß er sich meldete – aber da packte ihn böse Ahnung, ziehendes Gefühl in der Brust, wie er es noch nie gespürt hatte, melde dich nicht, nicht melden, jetzt bloß nicht melden. Druck im Schädel und im Kehlkopf, der Feldwebel fragte noch einmal. L. dachte: Gietzel und Steinbach und die beiden anderen warten jetzt, daß du dich meldest, wer denn sonst als das MG-As, Sekunden verstrichen, da sagte der Blonde aus Heidenau: »Da nehme ich’s eben«, und der Dunkle aus dem Thüringer Wald meldete sich als Schütze zwei.
Im Morgengrauen wurden Steinbach und L. von einem Leutnant auf einen Hügel geschickt, dort wäre ein Panzerdeckungsloch. Die beiden streckten die Gewehre vor, ließen die Blicke schweifen, setzten Fuß vor Fuß, tappten in die Leere, fürchteten Schüsse jeden Augenblick, erreichten die Kuppe und ließen sich in das Loch fallen. Ein vortreffliches Loch in vortrefflichem festem Boden, die ausgeworfene Erde war sorgsam verteilt, hier hatten Überlebenskünstler gearbeitet. Kein Mensch, kein Laut, kein Krieg. Wieder dieser hohe, helle Himmel wie zwei Tage vorher, und L. überlegte, ob er wohl am vergangenen Abend feig gewesen war, nicht mehr der Held von Malacky, nicht mehr wie Luther, der nach Worms hatte gehen wollen, müssen, auch wenn die Stadt voller Teufel gewesen wäre. Das hatten sie gelernt: Zuerst den feindlichen MG-Schützen niederkämpfen, den gefährlichsten Mann der Gruppe. Das hatten sie nicht gelernt: Der Gegner rottete zuerst den eigenen MG-Schützen aus. Aber es war logisch.
Einen halben Tag lang sahen sie zu, wie auf den jenseitigen Hügeln der Feind aufmarschierte. Auf der eigenen Seite waren die schwersten Waffen das leichte Maschinengewehr und die Panzerfaust, drüben waren es Granatwerfer und Panzerabwehrkanone. Keine Artillerie gab es in diesem Gefecht, keine Panzer, keine Flugzeuge, die stürmten gegen Bratislava und in der Mährischen Senke, wurden hinter der Oder zum Endkampf um Berlin gehortet, hier war Nebenkriegsschauplatz, Scharmützel, hier marschierte eine Partei auf wie im Siebenjährigen Krieg, protzte die Granatwerfer ab und zog von Hand die Geschütze in Stellung, das geschah mit vielem Hin und Her vor den Augen von Steinbach und L. Schützenreihen stiegen vom jenseitigen Hang herab. Das Kräfteverhältnis war fünfhundert zu zwei, trotzdem schossen Steinbach und L., bis die Angreifer im Grund verschwanden, sie sahen sie näher am Fuß ihres Hanges, schossen, trafen nicht, stritten, wer zuerst zurückspringen sollte, spring du, ich schieße, schließlich zickzackten sie gleichzeitig über den Hügelkamm, hörten Projektile pfeifen, hasteten auf das Dorf zu und sahen den Leutnant, der sie hinaufgeschickt hatte, verzweifelt winken und hörten ihn schreien, wo sie denn blieben. Über dem Dorf wolkten Rauchbäume der Granatwerfereinschläge, die Dorfstraße entlang flohen Landser – MG-Feuer, Gewehrfeuer, ein Oberfeldwebel schoß Panzerfäuste im Bogen ab über Gehöftdächer hinweg. Steinbach und L. hätten sich fünfzig Meter gegen den Strom stemmen müssen, um zu ihren Rädern zu kommen, aber das wagten sie nicht, wurden aus dem Dorf geschwemmt, sahen die Wiesen gesprenkelt mit Fliehenden, waren nicht mehr Werwölfe,