Durch die Erde ein Riß. Erich Loest

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Durch die Erde ein Riß - Erich Loest

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Schönfelder dichtete im ›Mittweidaer Tageblatt‹:

      »O ewig Frühlingswunder, sei gepriesen!

      Hell strahlt die Welt im goldnen Sonnenschein;

      In Halm und Zweigen gärt’s wie junger Wein.

      Bald, bald wird wieder frisches Grün uns sprießen!

      Nie durfte eines Lenzes ich genießen

      Wie dieses, den Millionen benedei’n.

      O deutsches Frühlingswunder – denk’ ich sein,

      muß ich ergriffen meine Augen schließen:

      Der Winterbann Alldeutschlands ist zu Ende.

      Horch, wie es jauchzend ringt, wie’s birst und kracht!

      Das Dritte Reich stand auf: Heil Schicksalswende!

      Der du uns Führer sandtest in der Nacht,

      O Herr, nun segne gnädig ihre Hände!

      Hilf Deutschlands Volk, das endlich aufgewacht!«

      Mittweida erlebte bei der Reichstagswahl am 5. März 1933 eine Rekordbeteiligung von 97 Prozent. Der Stadtchronist berichtet, daß sich Kranke auf der Trage nach dem Wahllokal bringen ließen. Für diese Wahl liegen die Ergebnisse der Stadt vor: SPD 4 599 Stimmen, KPD 1 482 Stimmen, NSDAP 5 317 Stimmen. Die beiden Arbeiterparteien waren zusammen noch immer stärker als die Nazis, Mittweidas Proletarier waren durch den Terror nicht zu erschüttern gewesen und stellten sich selbst das glänzendste Zeugnis aus. In den umliegenden Dörfern allerdings drangen die Nazis weiter vor, der Amtsbezirk meldete: Für die SPD stimmten 7 457, für die KPD 2 547 Wähler. Hier wie fast überall im Reich siegten die Nazis, sie erhielten 11 741 Stimmen. Die Parlamentsgewalt wurde außer Kraft gesetzt, dieser März brachte auch Mittweida die Diktatur. Noch einmal Dr. Sauer:

      »Schon früh um ein Uhr wurde die SA und SS aus den Betten geholt. Im Technikum befanden sich viele Nationalsozialisten. In ›Stadt Chemnitz‹ waren ca. 46 Mann Motorsturm mit Stahlhelmen. Vom Volkshaus (›Rosengarten‹) wurde die Rote Fahne entfernt, und an ihre Stelle trat die Hakenkreuzfahne. Neben den schwarzweiß-roten Fahnen wehten auch auf dem Amtsgericht, dem Ortskrankenkassengebäude, dem Technikum, der Post die Hitlerfahnen. In den Straßen bewegte sich sehr viel Uniform: Schupo, Hilfspolizei, SA- und SS-Männer. Die SS trug Stahlhelme, einzelne Gummiknüppel, Gewehre, Revolver. Dem Amtshauptmann von Rochlitz und dem ersten Bürgermeister von Mittweida wurde auf einige Zeit die Befehlsgewalt über Polizei und Gendarmerie entzogen. Der zweite Bürgermeister unserer Stadt wurde beurlaubt. Rote Fahnen wurden verbrannt. Kommunistische und Abzeichen der ›Eisernen Front‹ (drei Pfeile) waren von den Straßen verschwunden. Die Plakattafeln der SPD und KPD waren von den Wänden der Häuser, von den Zäunen usw. verschwunden. Stahlhelm und SA beherrschten die Straße!«

       2

      Kaum etwas von alledem wußte dieser Zehnjährige, als er drei Jahre später das Koppelschloß mit der Sig-Rune zum erstenmal zuhakte. Er sah sein Volk als einen monolithischen Block, umstellt von neidischen Engländern, Franzosen und Russen, später kamen Tschechen und Polen hinzu. Längst nicht alle in seinem Jungzug taten so pflichtbewußt Dienst wie er. Am häufigsten fehlten Arbeiterjungen. Manchmal gaben sie Gründe an: Sie müßten zu Hause helfen, auf kleine Geschwister aufpassen, sie besäßen keine festen Schuhe fürs Marschieren und das Geländespiel. Manchmal blieben sie einfach weg, gingen baden oder spielten Fußball. Es ist undenkbar, daß alle sechstausend linken Wähler vom März 1933 ihre Ideale und Hoffnungen innerhalb von drei Jahren vergessen hätten, daß nicht in Küchen und Stuben debattiert worden wäre, was vor 1933 versäumt worden war, daß nicht Jungen mit heißen Ohren dabeigesessen hätten, wenn Mütter und Väter sich die Köpfe nach einem Ausweg zermarterten. Wenn diese Jungen nur hörten, daß es in absehbarer Zeit unmöglich schien, das Geringste an der verdammten Naziherrschaft zu ändern, wenn sie nur die Hoffnungslosigkeit gegen die alles erdrückende braune Gewalt gespürt hätten, es wäre schon etwas gewesen. Aber von all dem drang nicht ein Hauch in L.s Erlebniswelt hinüber, und es ist dem Chronisten unmöglich, auch nur grob zu schätzen, was die Proletarierjungen aus dieser Sphäre heraus wissend oder instinktiv in ihr Verhältnis zur HJ einbrachten.

      Drei Jahre lang war L. ein pünktlicher Pimpf. Aber er war kein begeisterter Hitlerjunge, und heute ist der Chronist geneigt zu sagen, daß es begeisterte Hitlerjungen, daß es ein Glück im dritten Glied überhaupt nicht gab. Es gab nur begeisterte Hitlerjugendführer.

      Diese Entwicklung scheint denkbar: Seine Klassenkameraden trugen Führerschnuren, er nicht. Da hätte sich womöglich in ihm eine Abwehrhaltung herausbilden können: Marschieren war doof; viel besser war, Schlager zu hören, Zigarettenbilder zu sammeln, den Mädchen nachzulaufen, zu lesen. Er wollte ja gar keine rot-weiße Schnur von der linken Brusttasche über das Halstuch hinweg, er wollte ja gar nicht in der ersten Reihe marschieren und melden dürfen, der Jungzug wäre angetreten, er wollte ja gar nicht, daß andere vor ihm die Hacken zusammenknallten.

      Kein Erfolgserlebnis war ihm in den ersten drei Jahren im Jungvolk beschieden, er brachte beim jährlichen Sportwettbewerb im Sechzigmeterlauf, Weitsprung und Ballwurf nicht einmal die nötige Punktzahl zusammen, um ein kleines Blechabzeichen, gestanzt bei Wächtler & Lange, am Braunhemd tragen zu dürfen, viel weniger noch tat er sich bei den Raufereien der Geländespiele hervor. Er war Pimpf im dritten Glied.

      Aber er war zuverlässig. Schweigsamkeit wurde in der Praxis nicht verlangt, sicherlich war er ein leidlich zu leidender Kamerad, doch Zuverlässigkeit ist wohl ein Teil von Treue. Also fragte ihn, als er dreizehn geworden war, sein Jungzugführer, ob er eine Jungenschaft befehligen wolle, zehn Zehnjährige, die an Hitlers fünfzigstem Geburtstag ins Deutsche Jungvolk aufgenommen werden sollten. Er sagte sofort ja, und in diesem Augenblick war sein Verhältnis zur HJ gewandelt, jetzt war er nicht mehr Masse, sondern ein Führerchen, trug Verantwortung und Schnur, hatte den Fuß auf die unterste Sprosse der Himmelsleiter gesetzt, an deren Spitze der Führer stand.

      Und es begab sich, daß Alfred Loest sich und seiner Frau und den Kindern ein Erlebnis besonderer Art bieten wollte: Am Morgen des 20. April 1939 stieg die Familie in den D-Zug nach Berlin, und was dort auf den frischgebackenen Jungenschaftsführer einstürmte, war, um mit einem Lieblingswort dieser Zeit zu sprechen, gigantisch. Historiker vermuten, daß sich Hitler an diesem Tag auf dem Höhepunkt seiner Selbstverwirklichung fühlte, andere ziehen dafür die Stunde in Betracht, da er im Wald von Compiègne dem geschlagenen Frankreich den Waffenstillstand diktierte. Berlin gab sich als eine vor Glück taumelnde Stadt. Fahnen an jedem Haus, Girlanden, Transparente, Menschenmassen auf den Beinen, und zwischendrin ein kleiner Sachse mit seiner rot-weißen Schnur. Damals führte die Reichsjugendführung eine neue Regelung ein: Die Schnur war nicht mehr Kennzeichen des Dienstgrades, sondern der Dienststellung, in Sachsen galt diese Regelung schon, in Berlin noch nicht, in Berlin bedeutete eine rot-weiße Schnur noch viel mehr, und wo das Führerchen ging und stand, grüßten Jungvolk- und Hitlerjungen mit erhobenem Arm und Blickwendung, und der Geehrte dankte in gleicher Weise. Größere Jungen waren das, fünfzehnjährige, siebzehnjährige, sie werden sich gewundert haben, daß dieser Knopp schon zum Jungenschaftsführer befördert war, aber er war ja nur ernannt, und er ging an der Seite seiner Eltern und seiner Schwester, und wurde immerfort gegrüßt. Hitler stand stundenlang auf der Tribüne und nahm den Vorbeimarsch seiner Regimenter ab, einen Kilometer davon entfernt war E. L. mit Berliner Jungen auf einen Sims geklettert, von dort sahen sie auf immer neue Kolonnen hinunter, Panzerspähwagen und Flak, motorisierte Artillerie und Kradschützen, und sie riefen sich gegenseitig die Bezeichnungen des vorrüberrollenden Kriegsgeräts zu. Heinkelbomber dröhnten – das alles, so muß es Hitler empfunden haben, war sein Werk, Berlin, so sah es aus, lag ihm zu Füßen. Die

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