Swallow, mein wackerer Mustang. Erich Loest
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Читать онлайн книгу Swallow, mein wackerer Mustang - Erich Loest страница 13
Am Abend schreibt er: »Mag der Denker auch über die Dürftigkeit seiner Erkenntnisse seufzen und unbefriedigt dem unerreichbaren Ziel nachspüren, bis der Tod ihn den Schritt ins Jenseits lehrt: Der Gedanke, der ihn erleichtert, lebt fort und geht auf andere Geister über, um unter Sturm und Drang immer weiter entwickelt und ausgebildet zu werden. Immer neue herrliche Schöpfungen werden geboren, die nach dem Gang der Wahrheit streben …« Die Feder fügt Wort an Wort, steil, ohne Korrektur, die Linke hält die Zigarre. Ruhe liegt über Ernstthal, er schreibt: »… hebt unfehlbar doch zuletzt den Blick empor zum Himmel und lenkt das forschende Auge auf die hellen Punkte, von denen jeder eine Welt bedeutet. Im Glanz der Sterne nun entfaltet die Wunderblume der Erkenntnis ihre schönsten Blüten.«
Der Tag müßte achtundvierzig Stunden haben. Wenn er in Ernstthal ist, schläft er bis sieben oder acht; die Mutter hat ihm Morgensuppe aufgehoben. Seinen Rundgang macht er durchs Städtchen, wie zufällig steckt er den Kopf in Doßts Amtsstube hinein. Der Mutter kauft er Stoff für einen Rock, dem Vater steckt er eine Mark für Bier zu, von der die Mutter nichts zu wissen braucht. Von Mittag an schreibt er, am Abend macht er eine Pause von zwei Stunden, dann arbeitet er weiter bis zwölf, zwei, drei in der Nacht.
Auf der Fahrt nach Dresden holt er die Visitenkarten ab. Als er sie in den Händen hält, probiert er im Geiste aus, wie das klingt: Herr Doktor May. Darf ich bekannt machen: Herr Doktor May. Dieser Artikel stammt vom Doktor. Bring mal die Druckfahnen rauf zum Doktor! Hat gewonnen, die Zeitschrift, seitdem Doktor May sie redigiert.
Er schaut in die Augen der Frau und sucht ein Zwinkern darin, Argwohn, verstecktes Lächeln. Doch sie erwidert unbewegt seinen Blick, sie ist an solche Kunden gewöhnt. Vielleicht ein kleiner Beamter oder ein Kontorfuchser, wer weiß, wem er imponieren will. Doktor, der doch nicht. »Wir können jederzeit nachdrucken.«
Er zahlt und flieht fast aus dem Laden. Nach hundert Schritten probiert er wieder: Guten Morgen, Herr Doktor! Fräulein Ey wünscht das mit einem Knicks. Nein, im Verlag wird er sich nicht als Doktor ausgeben. Überhaupt nicht so bald.
Eine Stunde lang bürstet er den Anzug, die Schuhe. Er hält Blumen in der Hand, als er an Münchmeyers Tür schellt. Ein Mädchen öffnet, Münchmeyer begrüßt seinen Gast im Korridor. Er amüsiert sich: May wirkt aufgeregt wie ein Lehrling, der zum erstenmal ein Mädchen zum Tanz holt. Mein Gott, zweiunddreißig ist der Mann, sieben Jahre war er hinter Gittern, und da sagt man nun, Knast zähle doppelt!
Das Speisezimmer hat sich May dreifach so groß vorgestellt, er prallt an der Tür fast auf die Damen, dahinter steht gleich der Tisch. Er hat Schritte tun wollen auf eine ausgestreckte Hand zu, jetzt findet er kaum Raum, Frau Münchmeyers Rechte zum ersten Handkuß seines Lebens hochzuziehen. Fräulein Ey kichert, das gilt nicht ihm, aber er münzt es auf sich, da er beim Handkuß der Dame des Hauses nicht gegenübersteht, sondern aus Raummangel im spitzen Winkel. »Ihr Gatte war so freundlich …«
»Nehmen Sie bitte Platz, Herr May!« Aber May weiß nicht wo, in seinen Geschichten locken die Damen die Herren, die den Salon betreten, mit bloßem, vollem Arm auf ein Sofa an ihre Seite. Er kann sich doch wohl nicht an den gedeckten Tisch setzen; zwischen ihm und einem Stühlchen hat Minna Ey einen Schrank geöffnet, Münchmeyer sagt: »Mit der Suppe haben wir noch ein bißchen Zeit. Na, kommen Sie rüber! Sagen Sie mal, spielen Sie eigentlich ein Instrument?«
»Klavier, ich hab’s auf dem Lehrerseminar gelernt. Aber ich hab’s vernachlässigt, leider.«
Vernachlässigt, diese Formulierung findet Münchmeyer urkomisch. »Ich spiele Geige. Vielleicht musizieren wir gelegentlich mal zusammen?« Münchmeyer erwähnt nicht, daß er als junger Mann auf Dörfern zum Tanz aufgespielt hat.
Am Rücken von Fräulein Ey vorbei bugsiert er May zu einer Seitentür, vor Ledersesseln stehen sie jetzt, vor einem Bücherschrank und einem Gemälde: eine weitgewandete junge Frau neigt sich zu einem verwundeten Soldaten, der in einem Korbstuhl auf einer Veranda ruht.
»Wissen Sie, Herr May, daß ich einmal mit meinem Mann in Waldheim war?«
Diese Stimme ist hinter ihm, die Stimme von Frau Münchmeyer klingt über seinem Kopf, da wird ihm bewußt, daß er sitzt, während die Frau steht, er drückt sich eilig hoch und wendet sich halb zu ihr. »Ich kenne nichts von Waldheim außer« – er will sagen: außer dem Zuchthaus, er fürchtet, es klänge erkältend in diesem Zimmer und zu dieser Stunde.
»Natürlich logierten Sie nicht im Gasthof.« Die Stimme Münchmeyers dröhnt halb unter May, ein Meckern folgt. May hat die Knie eingeknickt, da ruft Fräulein Ey: »Die Suppe, wollt ihr schon die Suppe?«
Er findet aus seiner halb stehenden, halb zur Seite gedrehten Haltung heraus und in den Sessel hinunter, er lächelt Münchmeyer an; als er sich dieses Lächelns bewußt wird, erschrickt er: Es gibt keinen Grund dafür. »Nach Waldheim bin ich zu Fuß«, dringt es von seiner Zunge, »von Mittweida.« An einen Gendarmen gekettet, ein zweiter ging hinterher, aber das erwähnt er nicht. »Und fort bin ich mit der Eisenbahn. Den Berg zum Bahnhof hinauf.« Von dort und vom Zug aus sah ich noch einmal das Zuchthaus – auch das bleibt ungesprochen.
»Also die Suppe!« Minna Ey ruft, Münchmeyer macht schnaufend eine Handbewegung: Was soll man tun gegen diese Diktatur!
Zwischen den Schwestern findet er Platz und plagt sich mit der Überlegung ab, wer von beiden seine Tischdame sei, wer er vorzulegen habe – hat er vorzulegen? Das Mädchen serviert Brühe mit Eierstich. »Nehmen Sie sich von den Croutons«, bittet Frau Münchmeyer. »Ich weiß nicht, ob Sie sehr verwöhnt sind.« So konversiert sie jedesmal, wenn sie Rebhühnercroutons serviert. »Nein, gar nicht«, er errötet und beugt sich über den Teller, um es zu verbergen. Sein rechter Unterarm bleibt auf dem Tisch liegen, während er den Löffel zum Mund führt, das merkt er und richtet sich erschrocken auf, kommt ins Husten, beinahe ins Prusten, von einer Sekunde auf die andere beginnt er zu schwitzen.
»Joi, joi, joi«, begütigt Münchmeyer. »Bißchen heiß vielleicht?«
»Nehmen Sie sich Zeit, Herr May.« Pauline Münchmeyer legt den Löffel auf den Tellerrand. Vielleicht sollte man sich gar nicht mehr um diesen Stiesel kümmern, irgendwie wird er sich durchwursteln. Was tut man nicht alles für die Firma! Für den hätte eine Kaffee-Einladung genügt. Diese Krawatte, mein Gott! Ob Minna ihn noch immer rührend findet? Ach, Schwesterchen, du mit deinem Männergeschmack!
May beißt in ein Crouton wie Münchmeyer, kaut langsam wie Münchmeyer, nickt schmeckerisch. »Wunderbar zur Suppe!« Münchmeyer hat schon zu Ende gelöffelt, May holt auf. Tischunterhaltung bröckelt: Frau Münchmeyer fühle sich noch immer beengt: Was jetzt in Strießen für herrschaftliche Wohnungen gebaut würden, sechs Zimmer, eine ganze Etage! Münchmeyer, der nicht möchte, daß May glaubt, der Verlag werfe Unsummen ab, brummt, die Miete für diese Wohnung hier sei happig genug. Neue Möbel kämen ja gar nicht in Frage. Wer in der Krise Sprünge mache, fliege aufs Kreuz, man kenne Beispiele. Wo der Verlag im Wandel sei. Frau Münchmeyer schwärmt: Ein orientalischer Salon mit Löwenfell und arabischem Segel, wie heißt es doch gleich? May weiß es, hat aber den Mund voll, und ehe er gekaut und geschluckt hat, redet Minna von Papierpreisen, Druckerlöhnen – Münchmeyer wiederholt nicht sonderlich freundlich: Bleibt auf dem Teppich! Zum Hammelrücken nimmt May zuviel Soße und quetscht die Kartoffeln hinein zu einem mißfarbenen Brei. Beim Aufblicken sieht er, wie Fräulein Ey belustigt seinen Teller mustert, da meint er, seine Schultern zögen sich