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dich ein Bekannter gesehen gestern?«

      »Nein, Vater. Bestimmt nicht.« Durch Gärten und Schluppen ist er vom Bahnhof gehetzt, die Mütze auf die Augen gedrückt, das Siebensachenbündel unter dem Arm. In vier Jahren sind Hose und Jacke in der Effektenkammer nicht ansehnlicher geworden, das Hemd war noch immer schmutzfleckig wie während der Untersuchungshaft. May rasiert sich mit dem Messer des Vaters; bleich ist er, als ob er aus dem Spital käme. Oder eben aus dem Zuchthaus. Jetzt, Anfang Mai, laufen die Kinder schon barfuß.

      »Ziehst meinen Anzug an.«

      »Den kennt der Doßt.«

      »Wenn Herr Münchmeyer Vorschuß schickt …«

      »Muß nach Dresden.«

      »Aber Doßt?«

      »Er muß mich fahren lassen. Notfalls …« Diesen Satz setzt er nicht fort.

      »Vieles ist anders geworden bei uns.« In einer neuen Fabrik werde stündlich zentnerweise Garn gesponnen, zwei Verleger hätten Kapital zusammengeschossen und Aktien ausgegeben, kunstvoll bedruckte Papiere für 500 Mark, sagt man. Wie könne ein Handwerker sich da noch behaupten? Aus den Dörfern wanderten des Morgens Scharen von Mädchen herein, dreistöckige Mietshäuser würden aufgeschachtelt. Es sei in den Kneipen lauter geworden, die Beschaulichkeit der Stuben- und Brunnenkränzchen sterbe aus. Mehr Geld komme unter die Leute, dieser landweite Hunger wie vor dreißig Jahren, der Kinder und Alte umbrachte, sei vorbei. Dampfmaschinen stampften überall. »Nach Chemnitz müßtest du kommen! Nicht Weber sollte ich sein, sondern Maschinist, Mechaniker. Lokomobilist!« Der Vater spricht nicht aus, was er fürchtet: Und wenn Karl sagte: Morgen mache ich mich auf nach Hamburg, in ein paar Wochen bin ich in Amerika?

      May fährt nun doch in den Anzug des Vaters. Die Mutter hat das Hemd noch am Vorabend gewaschen, es ist trocken geworden über dem Herd. Eine Krawatte, den Hut gebürstet, die Schuhe gewichst. Wieder steht er vor dem Spiegel. Wenn nur diese Blässe nicht wäre. Jetzt schlägt es neun, Prott und seine Hilfsteufel halten gerade ihre Kaffeeschüsseln dem Kalfaktor hin. May dreht eine Zigarre zwischen den Fingern. Soll er sie anzünden, bevor er aus dem Haus geht? Rauchend durch die Straßen? Oder in Brand stecken vor dem Rathaus, damit wenigstens eine Hand Halt findet, solange er mit Doßt spricht? Er steckt die Zigarre in die obere Tasche des Jacketts; zu einem Drittel ragt sie heraus.

      Seine Knie sind ungelenk während des Gangs zum Rathaus. Eine Krämersfrau hinter einem Sauerkrautfaß, starrer Blick, weiter. Ein Schulkamerad – May tippt mit steifem Finger an den Hutrand. Schweiß auf der Stirn, er nimmt den Hut ab, Hut in der Hand – mit dem Hute in der Hand kommst du durch das. Den Hut wieder auf. In einer Gastwirtschaft hat er früher Kegel aufgesetzt: Halloh in der Küche, die Wirtin schüttelt ihm die Hand – wieder da, Karle? Dein Vater hat immerzu von dir erzählt – was willste nun anfangen? May nimmt einen Span, bückt sich zum Herdloch und zündet seine Zigarre an. Nach Lugau in die Kohle? Nein, er werde sich nach Dresden davonmachen. Nach Dresden? Das Staunen in den Augen der Frau läßt eine lockere Abschiedsgeste gelingen.

      Er schreitet rasch, will Schwung nutzen. Ein Nicken in das Gesicht eines Alten hinein, der kam manchmal zum Vater. Stufen hinauf, an eine Tür geklopft, eingetreten, die Linke mit der Zigarre am Rockaufschlag. Eine Frau und Ratswachtmeister Doßt lehnen auf der hölzernen Balustrade, die Besucher und Amtsperson trennt. Also eine Anzeige, nuschelt Doßt, aber da muß ich Ihrn Nam’ mit aufschreim, sonst geht das nicht. Die Frau blickt sich um, er kennt sie nicht, sie kennt ihn nicht. Doßt sagt ungeduldig: Also wie nu?

      Die Frau murmelt, sie wolle es sich noch einmal überlegen. May zieht an seiner Zigarre. »Guten Tag.«

      Doßt wendet den Kopf. »Der May.« Das klingt überrascht, nicht einmal unfreundlich. »Gucke an. Wo kommste denn her?«

      Eine Welle der Scham steigt in May auf, er weiß: Wenn er sich diese Anrede gefallen läßt, wird er tagelang das Gefühl der Erniedrigung nicht loswerden. »Für Sie immer noch Herr May.« Er zieht den Entlassungsschein aus der Tasche.

      »Gestern noch Streifen am Arsch und heute den großen Rand.« Doßt kennt Exemplare wie May zur Genüge. Er wirft einen Blick auf den Schein. Vier Jahre, immerhin. Und zwei Jährchen Polizeiaufsicht. Den Blick hoch in Mays Gesicht, May hält stand, Doßt registriert kein fahriges, demütiges Lächeln wie bei den meisten entlassenen Ganoven – verzieht May nicht frech die Braue? »Wie lange soll’s denn diesmal dauern, bis du wieder drinne bist?«

      »Ich verbitte mir …«

      »Wenn du die Gusche aufreißt, guck ich jede Nacht um drei nach, ob du im Bette liegst.«

      May pafft demonstrativ Rauch aus, Doßt liest: Gute Führung, der Delinquent hat das Verwerfliche seines Tuns eingesehen. Das übliche. Und ein halbes Jahr später schmoren die Scheißer wieder.

      »Wo wirste arbeiten?«

      »Ich bin Schriftsteller.«

      »Was biste?« Doßt reißt den Mund auf: Das ist der Spaß überhaupt!

      May zieht ein Heft aus der Tasche, »Das Schwarze Buch«, erschienen bei Münchmeyer in Dresden. »Diese Geschichte hier ist von mir.«

      »Steht aber kein Name dabei.«

      »Anonym. Lesen Sie mal, ein Brief vom Verleger Münchmeyer an meinen Vater.«

      Doßt blättert und liest. Seine Verwunderung schlägt um: Da ist etwas nicht geheuer, wer weiß, wer hinter dem Kerl steht. Wer weiß, wem er im Zuchthaus zu Gefallen war und was hier für Verdienste belohnt werden. Ist er zum Spitzel geworden? Also Vorsicht, man kann nie wissen, und wer deckt schon einen Ratswachtmeister? Doßt murmelt: »Rauchst gutes Kraut.« Er liest: Gleich nach der Entlassung Ihres Sohnes werde ich mit ihm Verbindung aufnehmen. Mein Verlag … Unterschrift. Doßt schnieft. An einen Steckbrief erinnert er sich, den er vor Jahren verfaßt hat: May ist von freundlichem, gewandtem und einschmeichelndem Benehmen, er trägt einen schwarzen Tuchrock mit sehr schmutzigem Kragen. Unbehaglich fühlt sich Doßt bei alldem, es läuft entschieden außerhalb des Gewohnten. Schriftsteller: Also doch Hungerleider, warum unbedingt ein Spitzel? Wer in Not ist, stiehlt eher als der Satte. Aufwiegler sollen’s schwer haben hier herum, man wird ihnen beizeiten aufs Maul schlagen. May hat einen Satz doppelt so schnell heraus, wie Doßt es je könnte, vermutlich hätte er ein Schriftstück in der Hälfte der Zeit aufgesetzt. Doßt fühlt sich redlich, königstreu, gerade in seinen Gedanken, und vor ihm steht einer, der schlau ist, gerieben, ein Advokatengehirn, Federfuchser, vielleicht nächstens ein politischer Agitator. Er wird ihm in den Hintern treten. Dieser verfluchte Wahlkreis 17 ist genug ins Gerede gekommen, seit hier der erste Sozialdemokrat in den Reichstag gewählt worden ist. Affenschande. Das rote Glauchau, das rote Ernstthal. »Solltest in den Schacht gehen nach Lugau oder Ölsnitz.« Doßt mustert Mays Schultern und Brustkorb, er denkt: Na, das schmale Handtuch. »Meldest dich jeden Tag um neun, bis du Arbeit hast.«

      »Aber ich …«

      »Wenn du die Gusche aufreißt, Karle, weck ich dich heut nacht um drei. Da ist ’ne Uhr weg, ich muß unter deinen Strohsack gucken. Na?«

      »Ich werde Ihnen baldigst einen weiteren Brief von Herrn Münchmeyer vorlegen.«

      »Kannste, Karle. Morgen um neun. Wie gesagt: Gutes Kraut rauchste.«

      Ein Stempel, eine Minute später steht May in der Sonne. Die Zigarre ist zu zwei Drittel aufgeraucht, sie hat ihre Pflicht getan. Sorgfältig drückt er sie aus. Hat er gesiegt? Durch Schluppen und Gärten flieht

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