Swallow, mein wackerer Mustang. Erich Loest
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Der Brodem der Zigarrenwicklerei drückt auf die Lungen, Tabak weicht auf der Diele, unter dem Tisch, um den Ofen herum, auf den Fensterbrettern. May nimmt Wickel von seinem Nebenmann, rollt sie in den Decker, dreht die Spitze an, klebt mit Kleister zu, der schwarz ist wie Teichschlamm, spuckt darauf und streicht glatt. Die nächste Zigarre, weiter. Wenn sie alle wüßten, wer ich bin, sinnt er, was in mir brennt, was sich Bahn brechen wird! Die Bösen zuckten zurück, Schweiß würde auf ihrer Stirn perlen, das Kinn töricht herunterklappen. Den Guten träte Glanz in die Augen, ein glückseliges Strahlen dränge von Innen heraus: Karl May ist da, der Starke, Gerechte, alles wird gut. Aber Prott schreit: »Nicht so viel Kleister, du Spinnkopp!«
Von Weibern reden sie wieder und wieder, die Kerle an den braungebeizten Tischen. May kann nicht mithalten, seine Erfahrungen sind beschämend gering. Ein Webermädchen aus Lugau für ein paar Abende, eine Bauerndirne in Böhmen, diese blamable Affäre im Grunde: Er hatte ihr Gedichte vorlesen wollen, sie hatte verdutzt, fahrig zugehört und war davongerannt. Mit ihren Freundinnen hatte sie in der Ferne gekreischt. Er stellt sich vor: Ein Zimmer mit Bordüren und schwellenden Teppichen, eine Frau liegt halb, lehnt halb auf einem Diwan, ihre vollen, weichen, weißen Arme sind bloß bis zur Schulter hinauf. Keineswegs blutjung ist sie, vielmehr reif, erfahren – verheiratet mit einem Rechtsanwalt? Ist Gräfin, die einen jungen Dichter zu sich geladen hat, der ihr seine Verse vorliest? Aber er wagt nicht, zu offenbaren, daß es eigene Gedichte sind, er gibt vor, er habe sie aus dem Orientalischen übersetzt. May nimmt sich vor: Wenn ich rauskomme …
»He, May, hau ran!«
Jaja, Prott. In acht Monaten und sieben Tagen. Eines Tages, wenn ich berühmt bin, werden mich elegante, kluge Frauen in ihre Salons laden, ich werde eine Mappe mit meinen Werken unter dem Arm tragen.
Klappern vieler Holzschuhpaare auf Korridoren und Treppen, Schlösser knallen, Riegel werden zurückgeworfen. Station drei – ablaufen! Station vier – ablaufen! Auf lehnenlosen Bänken drängen sich Züchtlinge in der Kirche, Tabak wird gegen Zucker getauscht, Feuerstein gegen Speck. Sensation auf Station fünf: Drei Häftlinge haben Brot in Wasser aufgesetzt, sie wollten Brotwein gären lassen. Die drei schmoren im Karzer. May hat die Arme an den Körper gepreßt, er tauscht nicht und hält sich heraus aus dem Gerüchtemarkt.
Ein Pult ist neben den Altar gestellt worden, der Direktor legt Manuskriptseiten darauf. Vor drei Jahren siegten Soldaten aller deutschen Stämme bei Sedan über das neidische Frankreich; Sachsen und Preußen, Badenser und Bayern fochten Schulter an Schulter. Der Aar warf den Hahn in den Staub, ein welscher Kaiser kapitulierte. Wieder ein Kaiser über Deutschland, ein Heldenkaiser nach Jahrhunderten der Ohnmacht! Zwickergläser blitzen, Worte blitzen. Blut und Eisen. Die Zuchtrute der Vergeltung fiel auf Frankreich, geboren war der eherne Held an Wollen und Können, gefunden hatte er den edlen Fürsten, der ihn walten ließ, erwählt hatten beide das zum Äußersten entschlossene Volk als Gefolge. Deutschland wurde in den Sattel gesetzt, reiten wird es schon können! Eine Pause im Vortrag, ein neues Blatt: Tüchtig, was ist das? Tüchtig ist auch ehrenhaft, redlich. Der Direktor läßt seinen Blick über die Reihen der ihm Anvertrauten streifen, der Diebe, Betrüger, Räuber, Schänder und Totschläger. Tüchtig in diesem neuen deutschen Leben, das heißt arbeitsam, ordentlich. Heißt kaisertreu, soldatisch. Schande über die, die im Einigungskrieg fochten und dennoch in diesem Haus Strafe verbüßen müssen – der Geist von Sedan wurde schmählich vertan. Aber immer bleibt Hoffnung, wo Reue ist – der Direktor gleitet in die Niederungen der Routine hinab, das kennen seine Züchtlinge nicht anders an ihm, der Alte kann beginnen, wo immer er will, er endet doch in händeringender Mahnung. May hat Pathos in sich aufgesogen, am stärksten hat ihn dieses Bild beeindruckt: Ein gefangener Kaiser auf einem Schloß, Posten wachen vor den Portalen, einsam schreitet der Besiegte durch hallende Säle. Ein Kammerdiener meldet: Wieder eine Stadt durch den Feind erobert, wieder eine Festung gefallen. Reue, tätige Reue, diese Rede kennt er. Prott hat ihn wieder wegen mangelnder Arbeitsleistung angeschwärzt.
Mittags schwimmt Speck auf der Suppe. Abends schreibt May an einer neuen Geschichte: Ein Mann taucht im Gebirge auf mit geheimnisvollen Kenntnissen über vergangene und gegenwärtige Schurkereien. Beim Förster mietet er sich ein und führt ihm vor, wie er in Windeseile sein Aussehen verändern kann: Er reißt eine Perücke herunter, färbt sich in Sekundenschnelle das Gesicht, klebt einen Bart an, läßt ihn in der Tasche verschwinden. Er trägt einen Rock mit vier Ärmeln, den man wenden kann, rot ist er auf einer Seite, blau auf der anderen. Gebückt schleicht dieser Mann durchs Zimmer und schreitet gleich darauf kerzengerade. Dukaten streut er unter die Armen, Fleißigen, die so friedfertig sind. Allen Haß häuft May auf die, die seine Kindheit vergällt haben, die Mieteintreiber, Hausbesitzer, Fabrikanten, Zwischenhändler. Salz wird gebräunt, damit es den fauligen Geschmack der Kartoffeln überdecke. Vor Jahren hat er im Zuchthaus Zwickau über das Sonnenland Dschinnistan gelesen, der Gegenpol hieß Ardistan, die Hölle, das Schwarze. In jedem Menschen liegen Dschinnistan und Ardistan nebeneinander, man muß Dschinnistan wecken, ihm aufhelfen durch edle Schriften. Ein anderer Gedanke aus Zwickau wird lebendig: Da ein Häftling für eine Woche nur ein Buch bekommt, das dann für viele Stunden ausreichen muß, sollte es lediglich vielseitenstarke Bücher geben. Und am Ende weiß der Leser: Da liegt Dschinnistan, ich muß es erringen, am anderen Pol dämmert Ardistan, ich muß es bekämpfen in mir und außerhalb von mir. Ein heiliges Lebensziel, sinnt er am nächsten Morgen, während seine Hände wie von selbst Wickel heranziehen und in die Decker schlagen, den Kleisterpinsel fassen. Ein Schwindelgefühl packt ihn, er zwingt sich hoch und drückt das Gesicht an die Luftklappe. Über dem Steilhang der Zschopau wölben sich Baumwipfel. In acht Monaten, weiß May, am zweiten Mai 1874 bin ich frei!
Nachts quälen ihn Erinnerungen. Als Kind war er linkischer, schwächer als seine Alterskameraden. Sie nahmen ihn nicht mit, wenn sie in den Wald zogen, um Gendarm und Räuber zu spielen; wenn er ihnen nachlief, bewarfen sie ihn mit Holz und Dreck. Prügel in der Schule, Prügel vom Vater, ein Bauer prügelte ihn vom Kartoffelfeld. Diese bittere Stunde: Ein fast siebzigjähriger Bauer packte ihn, den Zwanzigjährigen, in einer böhmischen Wirtsstube an der Jacke und schob ihn, trug ihn vor die Tür, unter Gejohle schmiß er ihn zwischen Kuhfladen. Die geschwollenen Adern am Hals des Bauern sieht May vor sich und riecht den säuerlichen Atem. Hat er sich gewehrt? Ist er davongerannt, Gespött für Kinder und Weiber? Ein geradezu kleiner Mann ist er nicht mit seinen hundertsechsundsechzig Zentimetern, aber seine Schultern sind schmal, seine Hände schlank und weich. Dennoch träumt er in dieser Nacht, wie er den Bauern mit drei Hieben fällt: Der erste trifft das Auge, das danach kein Auge mehr ist, der zweite zertrümmert die Zähne, der dritte, ein furchtbarer Schlag der eisenharten Rechten in die Herzgrube, läßt den Wüterich zusammenbrechen. Totenstill ist es in der Gaststube, bewundernd pflanzt es sich fort von Mund zu Mund: Karl May!
Wochen darauf schellt ein schnell und sehr sächsisch sprechender Vierziger an der Zuchthauspforte, ein Mann mit flinken, eng beieinanderstehenden Haselnußaugen und schadhaften Zähnen, in einem neuen Anzug und knarrenden Schuhen; er trägt den Mantel über dem Arm und eine blitzende Kette über dem Bauch: Doublé. Er stellt sich vor als Verleger Heinrich Gotthold Münchmeyer aus Dresden, der den Herrn Direktor sprechen möchte und, wenn möglich, den Züchtling May. Beim Schließer wartet Münchmeyer eine Viertelstunde, dabei verliert er einiges von der Forsche, zu der er sich bei Eintritt gezwungen hat; er wird zu Kochta geführt, der den Herrn Direktor entschuldigt, der weile zu amtlichem Behufe in Leipzig. Kochta und Münchmeyer messen sich mit den Augen, sie sind sich nicht sympathisch. Münchmeyer mag diese Holzschnittköpfe nicht, die das Bäuerliche nicht abgelegt haben und noch stolz sind auf ihre Unbeweglichkeit. Kochta findet Münchmeyer aufdringlich in seiner zur Schau gestellten Fürsorge, als breche ihm das Herz, wenn er hören müßte, May fühle sich unwohl. Kochta registriert rasche Handbewegungen,