Swallow, mein wackerer Mustang. Erich Loest
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Читать онлайн книгу Swallow, mein wackerer Mustang - Erich Loest страница 10
Mittags hat er sich leidlich in der Gewalt. Zu Ehren des Sohnes stehen Pellkartoffeln mit Hering auf dem Tisch. Er malt aus, wie er es Doßt gegeben habe; die Augen habe Doßt aufgerissen und die Geschichte Wort für Wort gelesen! Andere Entlassene suchten Arbeit in den Bergwerken, Doßt habe wörtlich gesagt: Herr May, dafür sind Sie zu gebildet!
Die Mutter hängt an seinen Lippen. Dreizehn Kinder hat sie geboren, acht starben im ersten Jahr. Nur ein Junge ist groß geworden, Karle, Karlchen. Als er verstummt, setzt sie dagegen, daß ihre Wäschemangel hinten im Schuppen fast jeden Tag für zwei, drei Stunden vermietet werde. Zwei Pfennig nähme sie für die Stunde, sonnabends habe sie schon vierzehn oder sechzehn Pfennige verdient. Karli, ist das nicht fein?
Am Nachmittag schreibt er, er schreibt am Abend und die halbe Nacht hindurch. Einen Brief an Münchmeyer, danach den Beginn einer wilden Geschichte mit Mord und Brand, Nacht, Friedhof. Es ist dunkel, als er ans Fenster tritt. Totenruhig liegt die Stadt. Der Vater hat ihn mit in die Schenke nehmen wollen, um seinen Freunden den künftigen Schriftsteller zu präsentieren. Keine Zeit, Vater! Er nimmt sich vor: Jeden Tag zehn Seiten! An diesem Abend füllt er sechs.
»Danke, Herr May.« Doßt verbeugt sich, als May ihm eine Zigarre auf die Balustrade legt. »Schon Post aus Dresden?«
»So schnell geht’s nicht.«
»Also morgen wieder um neun, May!«
An diesem Vormittag streunt er zu der Höhle hinauf, in der er sich einmal verborgen hatte. Birken sind aufgewachsen, Brombeergestrüpp überzieht Steinbrocken; niedriger ist das Loch im Fels, als es die Erinnerung bewahrte. Er will die Dämonen von damals herüberlocken, will am Nachmittag beschreiben, wie sich der Förstersohn Brandt – welcher Vorname? – Gustav Brandt, in einer Höhle verbarg, des Doppelmords angeklagt. Dieser Karl May von damals in seinem Drang aus furchtbaren Zwängen heraus – ich brauche mich vor der Erinnerung nicht zu ängstigen, suggeriert er sich, ich kann sie fruchtbar machen für mein Geschöpf Gustav Brandt.
Auf dem Rückweg fühlt er sich taumlig vor Glück. Er vermag eine Welt zu erschaffen mit Schlössern, Bankierswohnungen und Hütten, kann sie bevölkern mit hochgestellten Schurken und buhlerischen Frauen, mit Förster und Hund, Wald und Kutsche, Mühlrad, Dolch und Lauscher unter dem Bett, mit Redlichen, Wucherern, Liebenden. Weiter hinauf im Gebirge hat er Schnitzern zugeschaut, die in ihren Stuben kunstreiche Gebilde bosseln an unzähligen Winterabenden, Weihnachtsberge genannt. Das sind Ausschnitte aus ihrem Leben, Bergwerk mit auf- und absteigenden Figuren, Wägelchen, Pferdchen, Häuschen mit Kühlein und Mägdlein am Brunnen; ausgetüftelter Mechanismus sorgt dafür, daß die Pferdchen die Wägelchen ziehen und das Mägdlein das Eimerchen in den Brunnen senkt. Wie diese Schnitzer, sinnt er, erschaffe auch ich eine zweite Welt; die Schnitzer brauchen Stunden für eine Figur, ich gebäre sie in Sekundenschnelle auf dem Papier.
Die Mutter schleicht, wenn der Sohn schreibt, auf Zehenspitzen durchs Haus. Vier Tage nach seiner Rückkehr bringt der Postbote Vorschuß von Münchmeyer: zwanzig Mark. Das ist enorm viel Geld in den Augen der Mutter. May hat das Doppelte erhofft. Er braucht einen Anzug, wenn er sich in Dresden präsentieren soll. Er braucht Schuhe, Hemden, Uhr. In Waldheim hat er sich das Zigarrenrauchen angewöhnt; in den Nächten fliegen ihm die Gestalten müheloser zu, wenn Rauch seine Phantasie beflügelt. An einem Nachmittag steht er am Rande der Stadt, wo die Straße nach Waldenburg über den Hügel biegt. Auf dieser Straße verließ er zum ersten Mal Ernstthal, er, der beste Schüler seiner Klasse, empfohlen vom Lehrer und vom Pfarrer ans Lehrerseminar. Der einzige Weg für mich, aus der Enge herauszukommen, erinnert er sich jetzt und versucht Kraft aus dem Gedanken zu schöpfen: Ich lernte müheloser als alle, mir flog das Wissen nur so zu, ich war der beste Schnellrechner der Klasse, und keiner lernte fixer ein Gedicht. Und ich hab dazugelernt in Waldenburg und in Plauen, Rechnen und Erdkunde, Historie und ein bißchen Latein, Stilkunde des Deutschen, Rechtschreibung, Klavier- und Orgelspielen sogar. Lehrer war ich in Chemnitz an einer Fabrikschule, wenn auch nur kurze Zeit. Ich brauche mich meiner Bildung wegen vor niemandem zu verstecken. Wie auf einer Federzeichnung: Zwischen diesen Pflaumenbäumen trug er Ranzen und Bündel, beneidet von allen Mitschülern, die Handwerker wurden oder Knechte oder Arbeiter an den neuen Maschinen. Er wurde Lehrer. Jetzt hat Münchmeyer geschrieben: »Herr May, sprechen Sie bitte baldigst in Dresden vor!«
Dem Ratswachtmeister Doßt zeigt er diesen Brief, zwei Zigarren ragen ein Endchen aus der Rocktasche. Der Polizist wiegt den Kopf und stöhnt, er sei ja kein Unmensch, habe aber eindeutige Vorschriften. Noch nicht eine Woche aus dem Zuchthaus zurück und schon in die Residenz? Wenn das ein Vorgesetzter erführe – man sei nicht allein auf der Welt. »Meine Existenz«, bittet May.
»Meldest dich am Dienstag mal nicht.« Doßts Stimme klingt, als murmle er vor sich hin, als sei niemand außer ihm im Raum. »Ich merk das nicht, klar? Aber wenn du was anstellst – erlaubt hab ich’s dir nicht. Und am Mittwoch biste wieder hier!«
May schiebt beide Zigarren zu Doßt hin. »Ich danke Ihnen verbindlichst. Ihre Güte …«
»Ach, halt die Gusche, May.« Leise, gefährlich setzt Doßt hinzu: »Das letzte Mal hattste vier Jahre, nächstes Mal kriegste zehn. Und laß die Pfoten von der Politik!«
Am Dienstagmorgen fährt May nach Chemnitz und steigt um in den Zug nach Dresden. Ein Bein hat er über das andere geschlagen und blickt rauchend aus dem Fenster: Öderan, Freiberg. In diesen Wäldern zum Kamm hinauf lebt sein Förster Brandt, Pascher huschen nach Böhmen hinüber, Klöppelspitzen tragen sie unter der Jacke um den Leib gewickelt. Er kennt diesen Landstrich mit seinen Schlössern und Städtchen: Marienberg, Olbernhau, Schloß Purschenstein. Von dort schleicht Brandt verkleidet nach Dresden.
Dresden! Auf dem Böhmischen Bahnhof steigt er aus, in die Gassen um Markt und Schloß taucht er ein. Offiziere reiten vorbei, er weicht aus in den Schmutz. Ihn erregt dieser Gedanke: Keiner weiß, daß er vor Tagen noch Zuchthäusler war, daß er Manuskripte bei sich trägt und ein Dichter ist. In Waldheim war während der Freistunde rasches Gehen verboten, die Hände mußten auf dem Rücken gehalten werden. Jetzt läßt er den freien Arm schwingen, er schreitet aus und genießt das Ziehen in den Wadenmuskeln. Könnte es nicht sein, daß Waldheims Direktor beim Justizminister vorzusprechen hätte und ihm entgegenkäme? Respektvoll, aber keineswegs untertänig zöge May den Hut. »Sein« Direktor ist er nicht mehr und wird er nie wieder sein.
Auf einer Kreuzung haben sich Fuhrwerke verkeilt, Hufeisen klirren auf Kopfsteinen. Hucker turnen Leitern hinauf, Ziegelstapel auf dem Rücken. Gebaut wird, der Direktor hat recht gehabt in seinen Ansprachen, daß es stürmisch aufwärtsgehe im Reich und daß für jeden Platz sei. Mein Platz, denkt May, mein Platz! Er preßt die Tasche an sich.
Das Haus, in dem Münchmeyers Büro liegt, ist schmuckloser, schmaler, als er es sich ausgemalt hat. Schäbig ist es nicht, versichert er sich, eher unauffällig, bescheiden. Das Treppenhaus ist dunkel, im zweiten Stock entdeckt er ein Türschild und klopft, niemand öffnet. Die Tür läßt sich schieben, ein dämmriger Gang liegt vor ihm. Auf Stimmen geht er zu, klopft wieder und wird hereingebeten. »Mein Name ist May.« Eine Verbeugung dazu, Blicke zwischen zwei Frauen hin und her.
»Jaaa.« In einer Stunde, hört er, werde der Herr Verleger kommen. Blicke spürt er auf sich, die voller Neugier sind und diese verbergen wollen: Einer, der die Kugel am Bein gehabt hat. Solche Blicke können niederdrücken oder Kraft geben, spürt er, man muß ihre Wirkung in