Das Familienleben der Tiere. Mario Ludwig
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Und so ist das von der Natur auch vorgesehen: In einer stabilen Tierpopulation sollte sich bei der Fortpflanzung jedes Tier selbst ersetzen. Im Fall des Mondfisches sollten also aus der unvorstellbaren Zahl von 300 Millionen gerade mal zwei erwachsene Tiere hervorgehen, um eine stabile Mondfischpopulation zu gewährleisten. Ganz anders liegt der Fall, wenn tierische Eltern nur wenige Kinder haben, wie dies bei den meisten Säugetieren oder Vögeln der Fall ist. Hier ist eine umfangreiche Brutpflege angesagt und gute Eltern sind gefordert, will man dem Nachwuchs eine gute Chance geben, das Erwachsenenalter zu erreichen.
Brutpflege, sprich der Beginn einer tierischen Familie, fängt beim Bewachen der Eier oder des frisch geborenen Nachwuchses an und hört später bei der Weitergabe von überlebenswichtigem Wissen an die Jungtiere auf. Aber auch sonst gibt es für gute Tiereltern eine Menge zu tun, um ihrem Nachwuchs einen erfolgreichen Start ins Leben zu gewährleisten: Tierkinder müssen mit Wasser, Nahrung und Wärme versorgt und mit Zuneigung umhegt werden. Sie müssen stets gut getarnt sein, damit sie nicht von Fressfeinden erbeutet werden und im Notfall müssen sie unter Einsatz des eigenen Lebens verteidigt werden.
Und bei diesen Eltern, die Brutpflege betreiben, sich also mehr oder weniger intensiv um ihren Nachwuchs kümmern, finden wir oft eine geradezu klassische Rollenverteilung: Während der Herr Papa ziemlich schnöde bereits frühzeitig das Weite gesucht hat, muss Mama meist allein dafür sorgen, dass die Sprösslinge das Erwachsenenalter erreichen.
Aus väterlicher Sicht ist dieses Verhalten durchaus verständlich: Kann sich der tierische Papa doch oft überhaupt nicht sicher sein, ob er Liebe und Fürsorge in ein Kind investiert, das möglicherweise nicht sein eigenes ist. Im Tierreich sieht es nämlich, so neuere Erkenntnisse aus der Wissenschaft, in Sachen Treue nicht allzu gut aus.
Aber keine Regel ohne Ausnahme: Es gibt im Tierreich nicht nur gute und sogar herausragende, sondern auch alleinerziehende Väter. Wer nicht daran glaubt, dass auch schwule Väter exzellente Väter sein können, sollte sich einmal bei Geiern, Flamingos oder Störchen etwas genauer umsehen. Ein Blick zu den „Rössern der Meere“, den Seepferdchen, zeigt, dass man als Mann durchaus auch schwanger werden kann.
In Sachen Familie gibt es im Tierreich aber bei Weitem nicht nur die klassische Konstellation – Vater, Mutter, Kinder. Harems beispielsweise gab und gibt es nicht nur im Vorderen Orient, sondern auch bei vielen Tierarten. Männliche Strauße differenzieren sogar zwischen einer Hauptfrau und diversen Nebenfrauen. Und im Harem des als „ach so hässlich“ verleumdeten Nacktmulls hat nicht etwa ein männlicher Pascha das Sagen, sondern eine Nacktmullkönigin, die sich zur Fortpflanzung und wahrscheinlich auch zum Vergnügen drei bis vier Haremsmänner hält. So ist es nicht immer das Männchen, das in tierischen Familien den Ton angibt. Bei einigen Tierarten finden wir ein ausgeprägtes Matriarchat, sprich die Weibchen haben die Hosen an. Bei den Hyänen geschieht das durch nackte Stärke, bei den oft so übel als vermeintliche Sex-Maniacs verleumdeten Bonobos durch weibliche Cleverness und Kooperation.
Großmütter spielen dagegen bei den größten Landtieren der Welt, den Elefanten, und bei den wahrscheinlich besten Jägern im Tierreich, den berühmt berüchtigten Orcas oder Schwertwalen, eine tragende Rolle. Andere Weibchen, wie etwa der Kuckuck, versorgen ihren Nachwuchs nicht selbst, sie lassen versorgen. Da bleibt offensichtlich mehr Zeit für die angenehmen Dinge des Lebens. Und bei den putzigen Erdmännchen übernehmen spezielle Lehrer anstelle von Mama und Papa die Ausbildung des Nachwuchses. Tierische Eltern kümmern sich übrigens bei Weitem nicht nur um den eigenen Nachwuchs. Adoptionen sind im Tierreich zwar nicht gerade an der Tagesordnung, aber auch nicht selten. Dabei kann es durchaus zu verblüffenden Konstellationen kommen – beispielsweise Schildkröte adoptiert Nilpferd. Und ob das alles noch nicht genug wäre: In Saudi-Arabien gibt es eine Spielart der Bremer Stadtmusikanten, eine echte „Multikultifamilie“, zu bestaunen, zu der sich so unterschiedliche Tierarten wie Hunde, Paviane und Katzen zusammengeschlossen haben.
Alles in allem bleibt festzuhalten, in tierischen Familien gibt es eigentlich nichts, was es nicht gibt.
Ein Buch, wie das vorliegende, kann natürlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit in Sachen „Tierische Familien“ erheben. Dazu wäre eine etwas größere Enzyklopädie vonnöten. Dieses Buch soll aber dem geneigten Leser die interessantesten Tierfamilien vorstellen und dabei einen hoffentlich unterhaltsamen Einblick in teilweise völlig ungewöhnliche Familienstrukturen gewähren.
Familie Musterwolf
In unserem menschlichen Alltagsleben taucht der Begriff „Leitwolf“ mit schöner Regelmäßigkeit auf. „Der Leitwolf“, das ist schon seit Langem ein Synonym für einen dominierenden Mann – ob als CEO eines DAX-Konzerns, als Anführer einer militärischen Spezialeinheit, als Kapitän der Fußballmannschaft von Bayern München oder als charismatischer Vorsitzender eines Kegelclubs. Der Leitwolf bestimmt, wohin die Reise geht. Alle anderen müssen sich ein- bzw. unterordnen.
Leitwolf ist ein Begriff, der suggeriert, dass Wölfe in strengen hierarchischen Strukturen leben: Geführt wird das Wolfsrudel vom Leitwolf, einem Rudeldominator, der oft auch Alpha-Wolf genannt wird und dann geht es in der Hierarchie entsprechend des griechischen Alphabets weiter nach unten: Beta-Wolf, Gamma-Wolf bis hin zum Omega-Wolf, einem bedauernswerten Tier, das auf der untersten Sprosse der Hierarchieleiter steht, bei der Futterverteilung oft leer ausgeht, allen, die in der Rangordnung über ihm stehen, als Prügelknabe dient und auch in Sachen Sex regelmäßig zu kurz kommt.
So weit so gut. Doch jetzt kommt ein großes „Aber“: Wölfe sind überhaupt nicht so – zumindest nicht in der freien Natur. Der Mythos vom Leitwolf und der streng hierarchischen Rudelstruktur beruht auf früheren Beobachtungen von Wölfen, die in Gefangenschaft leben. Bis vor wenigen Jahren stammten jegliche Erkenntnisse bezüglich des Soziallebens der Wölfe von sogenannten Gehegewölfen. Die schwieriger zu erlangenden Kenntnisse über das Verhalten von frei lebenden Wölfen lagen lange Zeit so gut wie nicht vor.
Hierarchische Strukturen, wie man sie etwa von Schimpansen, Gorillas oder, um ein heimisches Beispiel zu nennen, vom Hühnerhof kennt, entstehen im Wolfsrudel nur in Zoos und Wildparks. Also dort, wo viele Wölfe oft völlig unterschiedlicher Herkunft gezwungen sind, auf engstem Raum zusammenzuleben, und dank Gitter oder Zaun nicht abwandern und ein eigenes Revier suchen können, um innerartlichen Konflikten zu entgehen. Wölfe in Gefangenschaft sind daher gezwungen, sich zu arrangieren. Klar, dass hier ein hohes Stresslevel und Aggressionspotenzial entstehen, die letztendlich zu einer streng linearen Hierarchie von Alpha-Wolf bis Omega-Wolf führen. Die stärksten Tiere geben den Ton an – keine guten Voraussetzungen für eine friedliche Wohngemeinschaft.
Neuere Erkenntnisse dank moderner Technik, etwa mit Minisendern ausgerüstete Halsbänder oder gut versteckte Wildkameras, zeigen jedoch, dass in der freien Natur eine andere Rudelstruktur besteht.
Zu einem in Freiheit lebenden Wolfsrudel gehören in der Regel Vater, Mutter und die Kinder. Will heißen, Wölfe leben im Prinzip in einer ähnlichen Familienstruktur wie wir Menschen, sozusagen die „Kleinfamilie Wolf“. Die wahren Leitwölfe im Rudel sind dabei die Elterntiere, die im Regelfall ein Leben lang zusammenbleiben. Damit gehören Wölfe zu den wenigen Säugetierarten, die monogam leben.
Diese menschenähnliche Familienstruktur ist nach Ansicht einiger Wissenschaftler auch der Grund, warum wir Menschen uns auf den Hund als eines unserer Lieblingshaustiere kapriziert haben: Schließlich leben die Vorfahren von Bello und Co. nicht