Das Familienleben der Tiere. Mario Ludwig
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Das Weibchen findet übrigens bei der Rückkehr von seinem Nahrungstrip „sein“ Männchen samt dazugehörigem Kind in der oft riesigen Kolonie der wartenden Pinguinmänner nicht etwa anhand von äußerlichen Merkmalen wieder, sondern an dem individuellen Ruf seiner Stimme. Hier zahlt sich offensichtlich das oben erwähnte lange Vorspiel aus, bei dem sich die Ehepaare die akustischen Besonderheiten des jeweiligen Partners gut einprägen können.
Die Weibchen kehren aber in den allermeisten Fällen rechtzeitig zu Vater und Kind zurück und versorgen ihr Küken dann mit der ersten Fischmahlzeit seines noch jungen Lebens. Und die fällt ziemlich reichlich aus: Bis zu drei Kilogramm leicht vorverdauten Fisch transportieren die Pinguinmütter für den Nachwuchs in ihrem Magen aus dem Ozean heran. Anschließend wird das Küken in die Bauchfalte der Mutter übergeben, sodass jetzt der Vater die Chance hat, endlich seinen schon ewig knurrenden Magen durch einen Marsch zum Ozean zu stillen.
Übrigens: Auch wenn das Bauchgefieder von Mutter beziehungsweise Vater in der Regel für genügend Wärme sorgt, fallen immer wieder Kaiserpinguinküken der klirrenden Kälte zum Opfer: Zwischen 80 und 90 Prozent der Küken erleben ihren ersten Geburtstag nicht.
Das Geheimdossier über die „Perversionen der Pinguine“
Als der britische Polarforscher George Murray Levick, der zwischen 1910 und 1913 Pinguinforschung in der Antarktis betrieben hatte, eine Adeliepinguinkolonie etwas näher unter die Lupe nahm, war er von dem, was er da beobachten musste, bis ins Mark erschüttert. Levick stellte geschockt fest, dass nicht nur einige Männchen mit Männchen Sex hatten, andere der Onanie frönten oder Jungvögel „vor den Augen ihrer Eltern“ vergewaltigten, sondern sich auch immer wieder an den Leichen weiblicher Pinguine vergingen. Einige der Leichen waren sogar über ein Jahr alt. Levick war über diese, wie er meinte, „abartigen“ Entdeckungen dermaßen entsetzt, dass er über die sexuellen Eskapaden der vermeintlich so netten Pinguine zunächst nur einen Bericht in altgriechischer Sprache verfasste. So hatte nur der „gebildete Gentleman“ Zugang zu diesen Erkenntnissen.
„Die Verbrechen, die diese Vögel begingen, sind von einer Art, wie sie in diesem Buch keinen Raum finden soll. Doch ist es tatsächlich interessant zu bemerken, dass, wo die Natur ihnen Beschäftigung zudenkt, diese Vögel wie Menschen durch Faulheit degenerieren“, konstatierte Levick völlig geschockt über die Lieblinge aller Kinder in den Zoos dieser Welt. Und er fügte entsetzt noch hinzu, dass selbst der berüchtigte Marquis de Sade von den Pinguinen noch etwas hätte lernen können. Folgerichtig hat er später nur ganz wenige Exemplare dieses Berichts, als eine Art Geheimdossier mit dem Namen „Sexual Habits of the Adélie Penguin“, handverlesenen Kollegen zukommen lassen.
Genau 100 Jahre später, nämlich 2012, wurde eines der wenigen existierenden Exemplare von „Sexual Habits of the Adélie Penguin“ im Natural History Museum von London wiederentdeckt und nicht nur im Fachmagazin „Polar Record“ publiziert, sondern auch der geneigten Öffentlichkeit im Rahmen einer Ausstellung zugänglich gemacht.
Erstaunlicherweise versuchen Pinguinweibchen, die keinen Geschlechtspartner gefunden haben, sprich Junggesellinnen, oder Weibchen, die ihr Küken verloren haben, immer wieder, die Küken von anderen Pinguindamen zu kidnappen. Diese setzen sich natürlich gegen die Kidnapperin zur Wehr. Und das so heftig, dass es oft bei den kämpfenden Weibchen zu blutigen Verletzungen kommt. Leider werden bei diesen Kämpfen aber auch öfter die noch sehr verletzlichen Küken vom Gewicht der sich balgenden Mütter erstickt oder auch regelrecht zu Tode getrampelt. Sind die Küken einmal erfolgreich entführt worden, erweist sich die Kidnapperin jedoch relativ rasch als Stiefmutter im wahrsten Sinne des Wortes: Die Entführerin verliert bald jegliches Interesse am gekidnappten Kind und das wandert dann verzweifelt durch die Pinguinkolonie, um bei anderen Schutz und Nahrung zu erhalten. Die verwaisten kleinen Pinguine versuchen oft sogar in ihrer Verzweiflung, andere Küken aus der Bauchfalte ihrer Eltern zu verdrängen. Diese Versuche scheitern jedoch meist kläglich, sodass die verwaisten kleinen Pinguine in der Regel sehr schnell verhungern oder erfrieren müssen. Französische Wissenschaftler haben vor einigen Jahren herausgefunden, dass für dieses, aus menschlicher Sicht so sinnlose Kidnapping sehr wahrscheinlich ein außergewöhnlich hoher Spiegel des sogenannten „Elternhormons“ Prolaktin verantwortlich ist. Eines Hormons, das für das Brutpflegeverhalten im Tierreich verantwortlich ist. Als die Wissenschaftler mithilfe von Medikamenten den Prolaktinspiegel der „Entführer“ künstlich senkten, ging die Anzahl der Kidnappings deutlich zurück. Nach Ansicht der Forscher soll der hohe Prolaktinspiegel im Regelfall dafür sorgen, dass die jeweiligen Elternvögel nach der durch die Futtersuche bedingten langen Trennung auch wieder zuverlässig zu ihrem Küken zurückkehren.
Kehrt das Männchen vollgefuttert und mit einer gewaltigen Extraportion Fisch für das Küken im Magen wieder zurück, zieht das Weibchen erneut los, um den gewaltigen Hunger des Kükens zu stillen. Nach rund 50 Tagen ist der kleine Pinguin dann bereits so wohlgenährt, dass er unter keine Bauchfalte mehr passt. Wenn die Küken etwa zwei Monate alt sind, ziehen beide Elternteile gleichzeitig los, um Nahrung für den Jungpinguin zu beschaffen. Die Wege zum offenen Meer und damit zu den Futtertrögen sind jetzt, dank wärmerer Temperaturen und schmelzendem Eis, deutlich kürzer geworden. Die Küken schließen sich in der Zwischenzeit, während sie auf Eltern und Fisch warten, zu einer sogenannten „Creche“, einer Art Pinguinkindergarten, zusammen. Im Alter von etwa sechs Monaten nach der ersten Mauser, wenn sie ihr Erwachsenenfederkleid verloren haben, verlassen die jungen Pinguine die Kolonie und kehren erst im Alter von etwa drei bis fünf Jahren zurück, um dann selbst zu brüten.
Wenn man einmal auf die nackten Zahlen blickt, sind die Strapazen, die ein Kaiserpinguinpaar während der Brutzeit auf sich nimmt, gewaltig: Insgesamt 16-mal, so haben Wissenschaftler errechnet, pendeln die Pinguineltern zwischen Ozean und Brutkolonie hin und her und legen dabei unglaubliche 2000 Kilometer zurück. Für eine Vogelart, die weder fliegen kann noch „gut zu Fuß“ ist, eine unglaubliche Leistung. Im Meer, wo die Pinguineltern bei ihren Beutezügen nach Fisch für sich und ihr Junges suchen, dürfte die zurückgelegte Strecke sogar fast viermal so groß sein. Apropos Beute: Im Schnitt transportieren Kaiserpinguineltern pro Brutsaison bis zu 45 Kilogramm Fisch über diese riesigen Entfernungen, um ihren Sprössling ausreichend mit Nahrung zu versorgen.
Allerdings sieht es um die Zukunft der größten Pinguine der Welt, folgt man aktuellen Forschungsergebnissen, nicht gerade rosig aus. Es sind die Folgen des Klimawandels, genauer gesagt die Erhöhung der Meerestemperatur und die damit verbundene Eisschmelze, die den Kaiserpinguinen zu schaffen machen. Ein amerikanisch-französisches Forscherteam um Stephanie Jenouvrier, von der Woods Hole Oceanographic Institution in Massachusetts, hat 2017 mithilfe aktueller Messdaten eine Computersimulation erstellt, um die künftigen Überlebenschancen der Kaiserpinguine zu errechnen. Das Ergebnis dieser Simulation war verheerend: Zwar werden, so die Wissenschaftler, die Bestände der Kaiserpinguine in den nächsten zwei Jahrzehnten relativ stabil bleiben. Allerdings wird sich etwa ab dem Jahr 2050 der Lebensraum der Kaiserpinguine derart verschlechtern, dass die Forscher davon ausgehen, dass der Kaiserpinguin bis zum Jahr 2100 in freier Wildbahn ausgestorben sein wird.
Die Sache mit der Treue
„Kein Zweifel, der Hund ist treu. Aber sollen wir uns deshalb ein Beispiel an ihm nehmen? Er ist doch nur dem Menschen treu und nicht dem Hund.“ Recht hat er, der begnadete österreichische Satiriker und Publizist Karl Kraus. Mit der Treue haben es Tiere nicht so. Der weitaus größte Teil der Tiere lebt polygam, hat also Sex mit mehreren Partnern.