Gabriele Reuter – Gesammelte Werke. Gabriele Reuter

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Gabriele Reuter – Gesammelte Werke - Gabriele Reuter Gesammelte Werke bei Null Papier

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ihr, zwi­schen den schma­len Holz­bän­ken, hör­te sie das Ge­pol­ter ei­ni­ger nie­der­kni­en­den Ta­ge­löh­ner­kin­der, die be­reits die Ein­seg­nung emp­fan­gen hat­ten. Aga­the wünsch­te plötz­lich mit krank­haf­ter Hef­tig­keit, un­ter den pein­lich glatt­ge­kämm­ten und rot­ge­seif­ten Köp­fen, den un­ge­schick­ten Ge­stal­ten dort sich ver­ber­gen, sich an der Ge­mein­schaft mit ih­nen stär­ken zu kön­nen.

      Ihr Herz woll­te sein Schla­gen aus­set­zen, eine Furcht er­griff sie, ein Schwin­del, in­dem sie auf die Knie sank und den Kopf mit dem Ge­fühl neig­te, es müs­se in der nächs­ten Mi­nu­te ihr Da­sein, das froh emp­fun­de­ne Da­sein, ge­gen einen Zu­stand von frem­der Schau­er­lich­keit, voll er­ha­be­ner Schmer­zen und be­klem­men­der Won­nen ein­ge­tauscht wer­den.

      Über sich hör­te Aga­the die sanf­te, ernst­fei­er­li­che Stim­me des Geist­li­chen die Fra­ge an sie rich­ten: ob sie dem Teu­fel, der Welt und al­len ih­ren Lüs­ten ent­sa­gen, ob sie Chri­sto an­ge­hö­ren und ihm fol­gen wol­le. In sü­ßer Schwer­mut hauch­te sie »ja«, fühl­te die Berüh­rung der seg­nen­den Hän­de auf ih­rem Haup­te und ver­such­te mit ge­walt­sa­mer An­stren­gung, alle ihre Sin­ne ein­zut­au­chen in die An­be­tung der ewi­gen Gott­heit – des Herrn, der über ihr schweb­te.

      Aber sie ver­nahm das Rau­schen ih­res ei­ge­nen sei­de­nen Klei­des; ein ge­rühr­tes Flüs­tern und un­ter­drück­tes Schluch­zen drang aus dem Pfarr­stuhl, wo ihre El­tern sa­ßen, zu ih­ren Ohren; sie hör­te ein Ge­sang­buch ir­gend­wo pol­ternd zur Erde fal­len und eine ge­mur­mel­te Ent­schul­di­gung – sie lausch­te auf die falschen Töne, die der Küs­ter bei sei­ner lei­sen Or­gel­be­glei­tung griff – sie muss­te an ein Buch den­ken, an eine an­stö­ßi­ge Stel­le, die sie ver­folg­te … Trä­nen quol­len un­ter ih­ren ge­senk­ten Li­dern her­vor, krampf­haft fal­te­ten sich ihre Hän­de, auf den schwar­zen Hand­schu­hen sah sie die Trä­nen­trop­fen nas­se Fle­cke bil­den – sie konn­te nicht be­ten …

      Nicht in die­ser Stun­de? Nicht wäh­rend we­ni­ger Se­kun­den konn­te sie Gott al­lein an­ge­hö­ren? Und sie hat­te ge­schwo­ren, für ihr gan­zes Le­ben dem Ir­di­schen ab­zu­sa­gen! Sie hat­te einen Mein­eid ge­leis­tet – eine un­tilg­ba­re Sün­de be­gan­gen! Mein Gott, mein Gott, wel­che Angst!

      Ver­such­te der Teu­fel sie? Es gab doch einen Teu­fel. Sie fühl­te ganz deut­lich, wie er in ih­rer Nähe war und sich freu­te, dass sie nicht be­ten konn­te. Lie­ber Gott, ver­lass mich doch nicht! – Vi­el­leicht kam die Prü­fung über sie, weil sie in der Beich­te, die sie hat­te nie­der­schrei­ben und dem Geist­li­chen über­rei­chen müs­sen, nicht auf­rich­tig ge­we­sen … Hät­te sie sich so ent­setz­lich de­mü­ti­gen sol­len … das be­ken­nen? Nein – nein – nein – das war ganz un­mög­lich. Lie­ber in die Höl­le!

      Der Schweiß brach ihr aus, so pei­nig­te sie die Scham.

      Das konn­te sie doch nicht auf­schrei­ben. Tau­send­mal lie­ber in die Höl­le!

      … Jetzt nicht dar­an den­ken … Nur nicht den­ken. Wie war es denn an­zu­stel­len, um Macht über das Den­ken zu be­kom­men? Sie dach­te doch im­mer … Al­les war so ge­heim­nis­voll schreck­lich bei die­sem christ­li­chen Glau­bens­le­ben. Sie woll­te es ja an­neh­men … Und sie hat­te ja auch ge­lobt – nun muss­te sie – da half ihr nichts mehr!

      Mit ei­nem un­er­träg­li­chen Zit­tern in den Kni­en be­gab das Mäd­chen sich an ih­ren Platz zu­rück. Der Ge­sang der Ge­mein­de und das Spiel der Or­gel schwol­len stär­ker an, wäh­rend der Geist­li­che die Vor­be­rei­tun­gen zum Abend­mahl traf, aus der schön­ge­form­ten Kan­ne Wein in den sil­ber­nen Kelch goss und das ge­stick­te Lei­nen­tuch von dem Tel­ler mit den hei­li­gen Obla­ten hob.

      Das Licht der ho­hen Wachs­ker­zen fla­cker­te un­ru­hig. Aga­the schloss ge­blen­det die Au­gen vor dem hel­len Son­nen­schein, der die Kir­che durch­ström­te, und in dem Mil­li­ar­den Stau­ba­to­me wir­bel­ten. War die Him­mels­son­ne nur dazu da, al­les Ver­bor­ge­ne zu schreck­li­cher Klar­heit zu brin­gen?

      In stump­fem Er­stau­nen hör­te sie ne­ben sich zwei ih­rer Mit­kon­fir­man­din­nen lei­se flüs­tern – flachs­köp­fi­ge Mäd­chen, die einen Duft von schlech­ter Po­ma­de um sich ver­brei­te­ten.

      »Wie­sing – wo is Dien Mod­der?«

      »Sei möt uns’ lüt­t’ Kalf bör­nen.«

      »Ju! He­wet et ji all? Dat’s fin! Dat kunnst mi ok gliek ver­tel­len!«

      »Klock Twelf hat’s de Bleß bracht. Wie sünd all die Nacht in’n Stall west!«

      Wie konn­te man über so et­was in der Kir­che re­den, dach­te Aga­the. Ein Zug hoch­mü­ti­ger Missach­tung be­weg­te ihre Mund­win­kel. Sie wur­de ru­hi­ger, si­che­rer im Ge­fühl ih­res hei­ßen Wol­lens. Eine Mü­dig­keit – eine Art von se­li­ger Er­mat­tung be­schlich sie bei dem Ge­san­ge je­nes al­ten mys­ti­schen Abend­mahls­lie­des:

       Freue dich, o lie­be See­le,

       Lass die dunkle Sün­den­höh­le,

       Komm ans hel­le Licht ge­gan­gen,

       Fan­ge herr­lich an zu pran­gen.

       Denn der Herr voll Heil und Gna­den

       Will dich jetzt zu Gas­te la­den,

       Der den Him­mel kann ver­wal­ten

       Will jetzt Zwie­sprach’ mit dir hal­ten.

       Eile, wie Ver­lob­te pfle­gen,

       Dei­nem Bräu­ti­gam ent­ge­gen.

       Der da mit dem Gna­den­ham­mer

       Klopft an dei­nes Her­zens Kam­mer.

       Öff­n’ ihm dei­nes Geis­tes Pfor­ten,

       Red’ ihn an mit sü­ßen Wor­ten:

       Komm, mein Liebs­ter, lass dich küs­sen.

       Lass mich dei­ner nicht mehr miss­en.

      Nun war es nicht der er­ha­be­ne Gott-Va­ter, der das Op­fer for­der­te, nicht mehr der hei­li­ge Geist, der un­be­greif­lich-furcht­ba­re, der mit den Glu­ten des ewi­gen Feu­ers sei­nen Be­lei­di­gern droht, der nie­mals ver­gibt – jetzt nah­te der himm­li­sche Bräu­ti­gam mit Trost und Lie­be.

      »Wer da un­wür­dig is­set und trin­ket, der sei ver­dammt« – heißt es zwar auch hier. Aber über das Mäd­chen kam eine fro­he Zu­ver­sicht. Vor ihr in­ne­res Auge trat Je­sus von Na­za­reth, wie ihn die Kunst, wie ihn Ti­zi­an ge­bil­det hat, in sei­ner schö­nen, jun­gen Men­sch­lich­keit – ihn hat­te sie lieb … Ein schmach­ten­des Be­geh­ren nach der ge­heim­nis­vol­len Ve­rei­ni­gung mit ihm durch­zit­ter­te

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