APEX. Ramez Naam
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Martin Holtzman war außerdem der Mann, der Präsident John Stocktons Leben gerettet hatte. Es war Holtzman, der Ungereimtheiten im Verhalten des Geheimdienstagenten aufspürte, der von der PLF – der terroristischen Posthuman Liberation Front – genötigt worden war, einen Anschlag zu verüben und unter dem Einfluss einer gehackten Version von Nexus zur menschlichen Zeitbombe geworden war.
Hätte Holtzman ihn nicht gewarnt … nun, Stockton wäre nicht mehr am Leben.
Carolyn Pryce richtete ihre Aufmerksamkeit wieder zurück auf das Video.
»Warren Becker tat, was ihm befohlen wurde«, kam zur Antwort. Das Gesicht des Sprechers füllte den gesamten Bildschirm aus.
Maximilian Barnes. Barnes streckte seine Hand in die Kamera. Es befand sich etwas in ihr. Eine Pille. Eine grüne Pille, die vorher schon im Video zu sehen gewesen war. Als sie weiterschauten, zerdrückte er sie zwischen seinem Finger und Daumen. Seine Hand sank hinab und war nun nicht mehr im Sichtbereich. Sie konnten Holtzman würgen und spucken hören. Maximilian Barnes war einer von Stocktons vertrautesten Beratern. Er war zeitweise auch der amtierende Direktor des ERD. Er war Martin Holtzmans Boss. Der Gedanke, dass er … Holtzman vergiften würde? Pryce drehte sich wieder zum Präsidenten um. John Stocktons Hände waren wie verkrampft um die Armlehnen seines Stuhls geklammert. Seine berühmten grünen Augen waren weit aufgerissen und bewegten sich von rechts nach links über den Bildschirm, um den mehrfach herangezoomten Ausschnitt zu scannen. Seine Lippen waren dabei leicht geöffnet.
Pryces Blick driftete zurück auf ihr eigenes Slate. Ein glattes, schwarzes, minimalistisches Tablet, das sie in ihren langen, dunkelhäutigen, weinrot manikürten Fingern hielt. In seiner schwarz-glänzenden Oberfläche sah sie ihr eigenes Spiegelbild: Eine hochgewachsene, trainierte, gut frisierte Afroamerikanerin, die gerade fünfzig geworden war und ein marineblaues, maßgeschneidertes Kostüm trug.
Doch sie fand auf dem Bildschirm keine neue Nachricht. Komm schon, Kaori, drängte sie ihre Abgeordnete im Stillen. Ich muss es wissen.
Es war kein guter Tag gewesen. Sie hätten für eine Kundgebung, die der Präsident geplant hatte, in Los Angeles sein sollen. Stattdessen waren sie hier in Houston, in einer sicheren Suite des Intercontinental Hotels, wohin sie vom Präsidenten umdirigiert worden waren, damit er öffentlich seine Unterstützung für die Stadt zeigen konnte, die erst diesen Morgen durch den Bombenanschlag der PLF auf die Westwood Baptistenkirche erschüttert wurde.
Ein Bombenanschlag, dessen Totenzahl heute Nacht die Tausendermarke erreichen könnte. Ein Bombenanschlag, der Männer und Frauen getötet hatte, die Stockton persönlich kannte. Es waren Freunde von ihm. Und Freunde von Pryce.
Ein Bombenanschlag, der Julie, die Tochter des Präsidenten getötet hätte, hätte sie ihre Pläne nicht im letzten Moment geändert.
Konnte Julie Stockton sogar das Ziel des Anschlags gewesen sein? Oder eines der Ziele? Der Präsident schien davon überzeugt zu sein.
Pryce enthielt sich ihres Urteils.
Die Nation sollte auf die Westwood Baptistenkirche fokussiert sein, auf Solidarität mit der Stadt Houston, auf das unglaubliche Ausmaß dieser Tragödie, auf die zweifellose Bösartigkeit der PLF.
Und auf die Botschaft des Präsidenten, dass es keine Kompromisse und keine Verhandlungen mit diesen Terroristen geben würde.
Stattdessen waren die Videos eingetroffen. Die Leaks.
Ein Video, auf dem Rangan Shankari, einer der Erfinder von Nexus, verhört wurde und unter Elektroschocks und Waterboarding alles preisgegeben hatte. Es waren grausame Dinge und alles wurde aus seiner Sichtweise gezeigt.
Das allein hätte Stockton noch verkraften können. Shankari war ein verurteilter Schwerverbrecher, der der Missachtung des Chandler-Acts schuldig gesprochen worden war.
Doch dann wurde nur wenige Stunden später ein weiteres Video veröffentlicht. Dieses zeigte Nexus-Kinder, die für Heilverfahrensexperimente missbraucht und einer Aversionstherapie ausgesetzt worden waren, in dem Versuch, Nexus aus ihren Körpern heraus zu spülen. Sie wurden von den Wächtern gezüchtigt, wenn sie versuchten, sich ihren Weg in die Freiheit zu beißen oder zu kratzen.
Pryce war bei dem Anblick zusammengezuckt. Wie sollte man das auch nur annähernd der Öffentlichkeit erklären? Und all das kam gleichzeitig mit Plänen heraus, Langzeit-Wohneinrichtungen für nexusverseuchte Kinder zu errichten. Pläne, die online bereits als »Konzentrationslager« verschrien wurden.
So historisch inkorrekt dieser Vergleich auch sein mochte, er setzte sich in den Köpfen fest.
Ein Text tauchte auf ihrem Slate auf, grüne Buchstaben vor dem schwarzglänzenden Hintergrund.
[Kaori: DHS IA ist gerade reingekommen. Holtzman ist tot. Bildmaterial folgt.]
Daraufhin kamen Fotos an. Pryce öffnete eines davon und ließ ihre Augen über das Bild gleiten. Dann öffnete sie das nächste. Und das nächste.
Verdammt.
Sie schaute auf. Sie hörte Holtzman aus dem Wallscreen heraus sagen: »Die PLF ist eine Lüge … die Sie erschaffen haben.« Ein Scheinwerfer blitzte auf und machte Maximilian Barnes eindeutig erkennbar. Dann brach das Video ab.
»Das ist ein Fake«, sagte John Stockton, mit einer Stimme voll unkontrollierter Wut. »Das ist absurd.«
»Absolut, Mr. Präsident«, antwortete ein Mann vom anderen Ende des Raumes. Greg Chase. Stocktons Pressesprecher. Geschniegelt und kerzengerade stand er da in seinem eleganten, grauen Anzug und einer gesunden Bräune passend zum blonden Haar. Bei ihm hatte immer alles seine Ordnung. Er hatte immer die perfekten Diskussionsansätze, welches Konzept man ihm auch immer darreichte.
Sie war sich nie sicher, ob sie Chase verabscheute oder darüber glücklich war, dass Stockton jemanden wie ihn für diesen Job hatte.
»Finden Sie Holtzman und Barnes«, sagte der Präsident, »bringen Sie sie vor die Kamera.«
»Holtzman ist tot, Mr. Präsident«, warf Pryce ein.
John Stockman hielt mitten im Satz inne und drehte sich zu ihr um.
»Was?«
»Ich habe gerade eben die Bestätigung erhalten.« Sie schüttelte den Kopf, klicke erneut auf das Foto, richtete ihr Slate auf den Bildschirm an der Wand und projizierte es darauf, sodass alle es sehen konnten.
»Das Bild ist dem Video, das wir gerade gesehen haben, ziemlich ähnlich.«
Aus dem Augenwinkel sah sie es in Chases Kopf rattern, sah ihn nach einem Anhaltspunkt suchen, nach einem Ansatz, so wie er es immer tat.
»Analysieren«, sagte Stockton.
Pryce schürzte ihre Lippen. »Wir haben zwei Optionen. Nummer eins, das Video ist echt. Nummer zwei, es ist ein Fake, aber wurde von jemandem gedreht, der am Schauplatz war. Vermutlich der Mörder. Vermutlich jemand, der tief mit dem DHS verstrickt ist.«
Stockton