Mami Staffel 8 – Familienroman. Lisa Simon
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Diana war bereits von den Polizeibeamten vernommen worden, und auch Julia hatte einige Fragen beantworten müssen, da sie den Jungen am besten kannte. Viel hatte sie nicht sagen können, weil Kevin keinerlei Andeutungen gemacht hatte, was er vorhatte.
Plötzlich fuhr Julia ein Gedanke durch den Kopf. Zu Diana sagte sie: »Bin gleich wieder da!« Dann lief sie in den Speisesaal, wo zwei weibliche Polizisten dabei waren, die Kinder, die ein wenig Kontakt zu Kevin hatten, zu befragen.
Julia blieb in der Tür stehen und machte eine stumme Handbewegung zu der jungen Polizeimeisterin, die gerade aufsah. Ellen Langner kam sofort zu Julia; sie ahnte, daß die Erzieherin etwas Wesentliches zu sagen hatte.
»Mir ist da noch etwas eingefallen«, sagte Julia schnell, »Kevin hat immer viel am Fenster gesessen oder zur Eingangspforte gestarrt, in der Hoffnung, daß seine Mutter auftaucht.«
»Seine Mutter? Dann ist er kein Waisenkind, und wir müssen sie benachrichtigen!« Die Beamtin wollte sich schon zum Gehen wenden, doch Julia hielt sie am Ärmel ihrer Uniformjacke zurück.
»Marion Seifert hat Kevin vor etwa einem Jahr zur Adoption freigegeben – sie wird kaum wissen wollen, was mit ihrem Sohn passiert ist.«
Ellen Langner sah betroffen auf Julia. »Dann hat sie gar keinen Kontakt mehr zu ihm?«
»Hatte sie noch nie!« rief Julia verbittert, und dann erzählte sie kurz, was sie über Kevins Vergangenheit wußte. Ellen Langners Erschütterung war ihrem hübschen Gesicht anzusehen.
»Aber was ich eigentlich sagen wollte: Es wäre möglich, daß Kevin sich auf die Suche nach seiner Mutter gemacht hat, weil sie sich nie hier hat sehen lassen«, erklärte Julia.
»Weiß er denn, wo sie wohnt?«
»Nein, er weiß noch nicht einmal, daß sie nichts von ihm wissen will!«
»Das ist ja schrecklich!« stieß Ellen hervor. »Ist Ihnen denn überhaupt bekannt, ob Frau Seifert hier in der Nähe lebt – und könnte Kevin dies möglicherweise herausgefunden haben?«
Julia seufzte. »Die Frau wohnt seit einiger Zeit in der Schweiz, für den Jungen also unerreichbar.«
»Nun ja, wenn ich mir so überlege, auf welche Ideen Kinder so kommen können…«
»Also, ich glaube vielmehr, Kevin irrt hier in der Stadt herum. Ich hoffe, daß ihm nichts passiert, bis er gefunden wird…«
*
Kevin wischte sich verwundert über die Augen und sah sich um. In dem Moment, als er aufwachte, wußte er nicht, wo er war. Er hatte nämlich geträumt, daß er aus dem Waisenhaus ausgerückt war, um seine Mutter zu suchen.
Als er ein zweites Mal die Augen öffnete, begriff er sehr schnell, daß dies kein Traum gewesen war – er lag nicht im Bett seines Zimmers im MARIENKÄFER, sondern in einem kleinen Raum, in dem lediglich das Bett stand, in dem Kevin lag, sowie ein alter Kleiderschrank und ein Tischchen mit einer altertümlichen, gußeisernen Nähmaschine darauf.
Jetzt fiel es ihm wieder ein – dies war das Nähzimmer der netten Frau Schröder, die ihn bei sich aufgenommen hatte!
Ein Geräusch ließ Kevin auffahren. Eine rotgetigerte dicke Katze sprang auf das Bett und musterte den kleinen Jungen neugierig. Kevin streichelte vorsichtig das dichte Fell und legte sich erleichtert zurück.
Er war die halbe Nacht in der Stadt herumgeirrt, hatte sich jedesmal versteckt, wenn ein Auto vorbeifuhr oder ihm jemand auf dem Gehsteig entgegenkam. Es war schon fast hell gewesen, als Kevin den Stadtrand erreichte. Er war müde, die Beine taten ihm vom vielen Laufen weh, und er wußte nicht, in welche Richtung er weiterlaufen sollte. Wenn er doch einen Anhaltspunkt gehabt hätte, wo ungefähr seine Mutter wohnen konnte!
Da hatte er gehört, wie jemand leise immer wieder ›Napoleon‹ in die Stille rief. Kevin war neugierig nähergetreten und hatte staunend beobachten können, wie eine ältere Frau in den Büschen nach etwas suchte.
»Kann ich Ihnen helfen?« hatte Kevin artig gefragt, und die Frau hatte sich sehr erschrocken. Wer vermutet schon zu solch früher Stunde einen einsamen kleinen Jungen unterwegs?
Kevin erfuhr dann, daß die Frau ihren Kater suchte, der schon seit ein paar Tagen verschwunden war. Als die Frau gefragt hatte, wer er sei und wohin er wolle, hatte Kevin gelogen, daß er sich verlaufen hätte und sich gewundert, daß die Frau ihn mit zu sich nach Hause eingeladen hatte, anstatt ihm zu sagen, daß sie die Polizei holen würde, damit er wieder nach Hause fände.
Frau Schröder war etwas merkwürdig, fand Kevin – und ein wenig schusselig. Aber das sagte er natürlich nicht. Er war ja froh, daß er fürs erste ein Dach über dem Kopf hatte, bis ihm ein guter Plan einfiel.
Behutsam setzte Kevin die Katze auf den Fußboden und schwang die Beine aus dem Bett. Im Zimmer war es schön warm, doch der Fußboden war ziemlich kühl. Das käme, weil das alte Haus keinen Keller besäße, hatte Frau Schröder erklärt. Sie wohnte schon seit über fünfzig Jahren in dem Häuschen – zusammen mit ihren Katzen. Im Moment lebten hier acht Katzen, wenn man den noch immer verschwundenen Kater Napoleon mitzählte.
Kevin öffnete die Tür und trat in den Flur. Es war schon fast Mittag und normalerweise schlief er nicht so lange, aber er war ja die ganze Nacht unterwegs gewesen und dankbar in das weiche Bett gefallen. Jetzt verspürte er Hunger. Er hoffte, daß es nicht zu aufdringlich klang, wenn er um eine Scheibe Brot und vielleicht ein Glas Milch bitten würde.
Waltraud Schröder, neunundsiebzig Jahre alt und in der Gegend als ›Katzenmuttchen‹ bekannt, galt als schrullig, aber liebenswürdig. Sie freute sich, daß sie endlich Gesellschaft hatte in Form dieses netten, kleinen Jungen, der vom Himmel gestiegen zu sein schien.
Mit Kindern und Tieren konnte man sich anfreunden, dachte sich Frau Schröder, einen Erwachsenen hätte sie nicht so einfach ins Haus gelassen!
Jetzt drehte sie sich sofort um, als sie Kevin unschlüssig an der Küchentür stehen sah. »Komm doch rein, Jungchen. Hast du gut geschlafen? Sicherlich hast du Hunger, natürlich hast du Hunger! Setz dich da hin, ich mache dir etwas zu essen. Spiegeleier mit Speck und ein Marmeladenbrötchen?«
Kevin bekam vor Erstaunen den Mund nicht mehr zu und nickte nur. Hier ließ es sich aushalten, fand er und beschloß, noch eine Weile der alten Dame und ihren Katzen Gesellschaft zu leisten…
*
»Wir haben Kevins Foto an alle größeren Zeitungen geschickt«, sagte am Nachmittag desselben Tages Ellen Langner zu Frau Clasen. »Der Junge kann schließlich nicht vom Erdboden verschwunden sein.«
Bärbel Clasen nickte, der Tag glich einem Alptraum, aus dem sie gleich aufzuwachen hoffte. Nicht nur, daß sich alle schreckliche Sorgen um den Kleinen machten, die Nervosität und Unruhe schien sich auch auf die anderen Kinder zu übertragen. Bereits mehrmals mußte eine der Erzieherinnen Streit schlichten oder dazwischengehen, wenn sich ein paar Kinder rauften.
»Sind Ihre Kollegen denn wirklich die ganzen Straßen abgefahren?« fragte sie mit einem Anflug von Hoffnung.
»Selbstverständlich«, erwiderte Ellen ruhig. »Alle verfügbaren Streifenwagen fahren nach wie vor alle Straßen ab – leider bisher ohne Erfolg. Aber ich bin sicher, daß Kevin gefunden wird, wenn sein Foto morgen in den