Ardistan und Dschinnistan. Karl May
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Читать онлайн книгу Ardistan und Dschinnistan - Karl May страница 52
»Aber so große Flüsse können doch nicht verschwinden, wenigstens nicht so schnell!«
»Allerdings nicht. Aber sie können ihr altes Bett verlassen, ihren bisherigen Weg verändern, sogar infolge von Entwaldungen der Berge sich nach und nach zurückziehen. Wie es sich hier in diesem Falle verhält, werden wir erfahren, wenn wir erst längere Zeit im Lande gewesen sind.«
»Und die andere Wahrheit der Sage, die innere?«
»Die bezieht sich darauf, daß die Entwicklung des Menschengeschlechts nicht nach kriegerischen, sondern nach friedlichen, versöhnlichen Wegen zu suchen hat. Der Name der Quelle und des Flusses war Ssul, das ist Friede. Diese Quelle liegt im Paradiese. Der Friede ist Himmelsgabe. Wo er fließt, da segnet er nicht nur das, was bereits besteht, sondern auch das, was er bringt und schafft. Er setzt neue Länder an, sichtbare und unsichtbare, im Handel und Gewerbe, in der Kunst und in der Wissenschaft. Und das alles geht wieder zurück, wenn der Strom des Friedens vertrocknet, und die Rüstungen alles, was er schaffte, wieder verschlingen. Oder wenn der Krieg mit einem einzigen rohen Streiche die Gaben vom Tische wirft, die der Friede dort bescherte. Dann weicht dieser letztere bis dahin zurück, woher er kam, bis ins Paradies, oder wenigstens bis Dschinnistan, wenn nicht für immer, so doch für lange, lange Zeit. Und kehrt er endlich wieder, so geschieht das nur langsam, furchtsam, zögernd; er läßt sich nicht zwingen. Darum ist es sehr richtig, was die Sage Gott in den Mund legt, indem er warnend sagt: >Und wehe Euch, wenn Ihr ihn durch die Waffe zwingt, zu Euch zurückzukehren; denn alles, was da lebte, würde sterben!< Der Völkerfriede, den wir anstreben, kann sich nur nach und nach entwickeln. Umfaßt er mit seinen Wurzeln die ganze Erde, ein Saug-und Faserwurzelchen in jedes Menschenherz, so wächst er hoch über Irdisches empor und trägt als Früchte die ewigen Sterne in seiner Krone. Ein Welt-und Völkerfriede aber, der nicht im Herzen der Menschheit wurzelt, sondern mit Gewalt und plötzlich herbeigezwungen werden soll, der würde zerstören und vernichten, nicht aber erzeugen und beleben. Und hier gibt es in der Sage vom zurückgekehrten Flusse einen Punkt, den ich nicht sehe, oder ein Geheimnis, welches ich nicht begreife. Fast will es klingen, als ob es möglich sei, ihn mit den Waffen in der Hand zu zwingen, ganz plötzlich und unvorbereitet zurückzukehren, also eine noch gräßlichere Katastrophe, wie sein Verschwinden eine war. Eine Sage, die sich so fest gebildet und gestaltet hat wie diese hier, erzählt nie etwas Unnützes. Sie hängt wie eine schwarze Drohung für Ardistan hoch über Dschinnistan, und wenn in dieser von der schauenden Volksseele gedichteten Erzählung kein Geringerer als Gott vor der Entladung dieser Wolke warnt, so ist die Gefahr nicht nur in der Dichtung, sondern auch in der Wirklichkeit vorhanden.«
»Meinst Du? Du glaubst also an Sagen?«
»An ihren eigentlichen Inhalt, ja.«
»Ich auch. Es freut mich, daß wir auch in dieser Beziehung zusammenstimmen. Nun aber lege ich mich wieder nieder. Allah gibt den Schlaf nicht, daß man ihn bewachen soll. Gute Nacht, Effendi!«
»Gute Nacht, Halef!«
Schon nach einigen Minuten war er eingeschlafen, ich aber nicht. Nach so wichtigen Tagen, wie der heutige gewesen war, ist man innerlich verpflichtet, sich das Geschehene zurecht zu legen, um das, was kommen soll, darauf zu bauen. Das war bei mir allerdings bereits geschehen. Aber nun hatte die Sage dazu zu kommen, die für mich mehr, weit mehr, als nur eine kurze, hübsche, aber nichtssagende Erzählung war. Aus solchen Dingen spricht nicht nur die Volks-sondern auch die Menschheitsseele, deren Schritte man nur im stillen Denken und Fühlen sich nahen hört. So lag ich still und sann und sann. Über mir breiteten sich die dunkeln Wipfel der Bäume, die keinen Blick des Sternenhimmels hindurchließen. Aber wenn ich mich auf die Seite wendete, wo unweit von meiner Lagerstätte die freie Lichtung begann, da konnte ich zwischen den Stämmen hindurch zwei Sterne erkennen, die tief am Himmel standen und meine Augen auf sich zogen, weil sie die einzigen waren, die ich sah. Es war der Deneb und die Mira vom Bilde des Walfisches. Die letztere ist interessant, weil ihre Helligkeit innerhalb nicht ganz eines Jahres von zweiter bis zu zehnter Größe schwankt. Heut war sie ganz beträchtlich. Die Mira steht bekanntlich am Hals und der Deneb am Schwanz des Sternbildes, also voneinander entfernt. Indem mein Auge an ihnen hängen blieb, schien sich von mir zu ihnen ein lichtglänzender Weg zu ziehen, der so breit war, wie sie scheinbar auseinander standen. Auf diesem Wege schienen die Gedanken, die mich beschäftigten, zu kommen und zu gehen. Solche Eindrücke gibt es nur während jener ungestörten, sich selbst gehörenden Stunden, in denen die Seele den Körper ganz und restlos beherrscht. Infolge der Sage befand sich die Seele jetzt unterwegs nach Dschinnistan und dem Paradiese. Vor dem körperlichen Auge lagen die beiden Sterne. Die Seele bemächtigte sich ihrer. Dort, von woher die beiden leuchtenden Welten strahlten, sah meine Phantasie das Tor, aus dem der Erzengel trat, und die Mauern, auf denen seine Scharen erschienen, um nach dem Frieden auszuschauen. Ich sah dann auch Gott selber kommen. Ich sah ihn in Dschinnistan erscheinen und den Herrscher dieses Landes ihm zu Füßen anbetend niedersinken. Und ich sah ihn dann nach Ardistan wandern. Ich sah ihn in der Hauptstadt auf der Brücke. ich sah das Wasser wie eine Mauer steigen und nach seiner Quelle zurückkehren, als der Herr verschwunden war. Ich sah die Stadt verdorren und verfallen. Ich stand dann auf ihren Trümmern. Ich suchte und forschte in ihren Ruinen, denn ich wollte den Palast des Königs finden, in dem man Gott gerichtet und zum Tode verurteilt hatte. Ich entdeckte den Weg. Er führte hügelaufwärts, durch ein riesig hohes und breites steinernes Tor hindurch, dessen Pfeiler eine alte, babylonische Sonnenuhr trugen. Nur eine kurze Strecke weiter stand der gesuchte Palast, von Mauern rings umgeben. Das Tor war geschlossen. Ich klopfte an. Der Pförtner erschien. Ich bat ihn, zu öffnen und mich einzulassen. Da schüttelte er den Kopf und antwortete: »Heut noch nicht, aber wahrscheinlich später.« »Warum nicht jetzt?« erkundigte ich mich. »Weil Du jetzt schläfst,« belehrte er mich. »Wir brauchen hier nur wachende Geister und Seelen!« Hierauf nahm er plötzlich die Gestalt, die Kleidung und das Gesicht meines kleinen Hadschi an, ergriff meinen Arm, schüttelte mich und rief: »Wach auf, wach auf, Sihdi! Wir sind schon alle munter. Man bereitet soeben das Essen. Ist dieses vorüber, dann brechen wir auf von hier!«
Ich sprang auf. Ich hatte geschlafen, und zwar tief, sehr tief. Alles, was ich gesehen hatte, war Traum, aber ein so eigenartiger und vertrauenerweckender Traum, daß ich das sofortige Bedürfnis fühlte, mir nichts, gar nichts davon wegnehmen zu lassen, sondern mir alles genau zu merken. Ich hütete mich also, zu sprechen, und ging, ohne ein Wort zu sagen, ein Stück in den Wald hinein, um das, was mir in dieser Nacht gezeigt worden war, in mir zu befestigen. Solange wir unsere gerühmte Psychologie nur theoretisch treiben, sind wir keine Psychologen. Praktisch sein, in das reale Leben greifen, unsere Seele und unsern Geist an uns selbst studieren, sie keinen Augenblick aus den Augen lassen! Alles, was wir fühlen, denken, wollen und tun, auf sie beziehen! Wer das nicht tut, der nenne sich ja nicht Psycholog! Was mich betrifft, so lasse ich keinen meiner Träume ohne den Versuch, ihn festzuhalten, vorüberziehen. Ich komme im späteren Verlaufe der Ereignisse auf diesen Punkt zurück.
Ich hatte länger als alle anderen geschlafen, und Syrr, dessen Hals, wie erwähnt, mein Kopfkissen bildete, hatte ebensolang, um mich nicht aufzuwecken, ganz ohne Bewegung gelegen. Dafür hatte ihm Halef das saftigste Gras und die besten Stauden geschnitten, die es hier gab, und legte sie ihm nun jetzt als Frühstück vor. Den Scheik sah ich nicht. Er war hinüber nach der Insel, um die drei Gefangenen selbst zu holen. Sie machten, als er sie brachte, nicht etwa einen niedergeschlagenen Eindruck, sondern ihr Auftreten und Verhalten ließ deutlich den Wunsch nach Rache erkennen. Sie wurden reichlich gespeist und dann genau so wie gestern auf ihre Pferde gebunden. Hierauf wurde der Heimritt nach der >Hauptstadt< angetreten.
Wir hatten uns nicht mit Packpferden zu befassen, denn der Ertrag der Jagd war schon vorgestern nach demselben Ziele abgegangen. Wir ritten mit dem Scheik, seiner Frau und dem Sahahr voran; die anderen folgten weit hinterher. Die Entfernung bis zur Stadt war