Was uns geblieben ist. Georg Markus
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Seit dem 21. Oktober 1916 sind die Namen der beiden Familien schicksalhaft miteinander verbunden. Der österreichisch-ungarische Ministerpräsident Karl Graf Stürgkh betritt an diesem Samstag – wie fast jeden Tag zu Mittag – den im ersten Stock gelegenen Speisesaal des noblen Hotels Meißl und Schadn auf dem Neuen Markt in der Wiener Innenstadt. Der 56-jährige Regierungschef setzt sich und bestellt Tafelspitz.
Am Nebentisch sitzt Victor Adlers Sohn, der 37-jährige Friedrich Adler. Er hat sich für dieselbe Speise entschieden und nimmt danach noch eine Portion Zwetschkenkuchen. »Ich habe mir gesagt, wer weiß, wann ich wieder zum Essen komme«, wird er später bei der Gerichtsverhandlung erklären. Als Adler mit dem Nachtisch fertig ist, ruft er den Ober, begleicht seine Rechnung und erhebt sich. Er geht auf den Grafen Stürgkh zu und feuert aus einem Revolver drei Schüsse ab. Der Ministerpräsident ist auf der Stelle tot.
Ein knappes Jahrhundert danach kennt man den Namen Stürgkh nicht so sehr durch den auf dramatische Weise ums Leben gekommenen Politiker als durch die Organisatorin des Wiener Opernballs. Ihr Urgroßvater war der Bruder des ermordeten Ministerpräsidenten. Desirée Treichl-Stürgkh selbst hat aus einem anderen tragischen Grund innerhalb ihrer Familie nur wenig von diesem Ereignis erfahren: »Als ich fünfzehn war, starben meine Eltern knapp hintereinander. Zuerst mein Vater an einem Herzinfarkt, ein halbes Jahr später meine Mutter an Krebs. Ich hatte also niemanden, der mir die Familiengeschichte nahe bringen konnte.«
Der Oberkellner, Herr Grumbach, und mehrere zufällig anwesende Offiziere halten Friedrich Adler, als die Schüsse gefallen sind, bis zum Eintreffen der Polizei fest. Danach lässt sich der Attentäter widerstandslos festnehmen und legt ein Geständnis ab.
•Der Täter. Friedrich Adler kam 1879 in Wien als Sohn des Arztes und Politikers Victor Adler zur Welt, studierte in Zürich Physik und lehrte dort nach seiner Promotion als Privatdozent. Er heiratete die Russin Katarina Germanisskaja, mit der er zwei Töchter und einen Sohn hatte, die zum Zeitpunkt der Tat noch im schulpflichtigen Alter waren. 1909 bewarb sich Friedrich Adler gleichzeitig mit Albert Einstein, dem er seit der gemeinsamen Studienzeit freundschaftlich verbunden war, an der Universität Zürich um die Stelle eines außerordentlichen Professors für theoretische Physik, verzichtete dann jedoch zugunsten Einsteins. Als dieser zwei Jahre später an die Universität Prag wechselte, schlug er Adler als seinen Nachfolger vor, der zu diesem Zeitpunkt jedoch bereits politische Ambitionen zeigte. Er kehrte nach Wien zurück und wurde Parteisekretär der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, als der er sich stets vehement gegen den Eintritt Österreichs in einen Krieg aussprach.
•Der Vater des Täters. Victor Adler bricht, als er von der Tat seines Sohnes erfährt, zusammen. Er ist 64 Jahre alt und schwer herzkrank. Als Spross einer wohlhabenden Prager Kaufmannsfamilie 1852 in Prag geboren, studierte er in Wien Medizin, wo er sich zunächst den Deutschnationalen um Georg von Schönerer anschloss, die er jedoch wegen deren wachsendem Antisemitismus verließ und dem Arbeiterbildungsverein beitrat. 1878 lernte er im Café Griensteidl seine Frau Emma Braun kennen, die ein Jahr später den gemeinsamen Sohn Friedrich zur Welt brachte. 1883 eröffnete Victor Adler in der Berggasse 19 eine Arztpraxis, in der er acht Jahre lang als »Armeleutedoktor« ordinierte, ehe er sie an Sigmund Freud weitergab. Da er nie Honorare verlangte, verlor er dadurch sein Vermögen und musste das vom Vater geerbte Haus verkaufen. Obwohl er zum Zeitpunkt des Attentats ein schwer kranker Mann ist, entschließt sich Victor Adler, für seinen Sohn zu kämpfen, indem er – auch als Zeuge vor Gericht – behauptet, dieser hätte in plötzlicher Geistesverwirrung gehandelt. Das schien ihm die einzige Chance, sein Leben zu retten, andernfalls hätte ihn die sichere Todesstrafe erwartet.
•Das Opfer. Karl Graf Stürgkh, 1859 in Graz zur Welt gekommen, gehörte der Gruppierung der Großgrundbesitzer im Reichsrat an. Der studierte Jurist wurde zunächst als Unterrichtsminister ins Kabinett geholt und 1911 zum Ministerpräsidenten ernannt. Stürgkh regierte ab 1914 unter Ausschaltung des Reichsrats autoritär und ignorierte jegliche Forderung der Opposition nach Wiedereinberufung des Parlaments. Nach Stürgkhs Tod ernannte Kaiser Franz Joseph den bisherigen Finanzminister Ernest von Koerber zu seinem Nachfolger. Es war dies eine seiner letzten Amtshandlungen – der Kaiser starb vier Wochen nach dem Attentat, am 21. November 1916, im Alter von 86 Jahren.
Karl Stürgkh hinterließ keine Kinder. Er war nie verheiratet – laut Familienüberlieferung deshalb, weil er ein derart treuer Diener seines Herrn gewesen sei, dass eine Frau an seiner Seite keinen Platz gefunden hätte. Angeblich hatte er sogar in einem Vorraum des jeweiligen Ministerbüros, in dem er gerade tätig war, ein Feldbett aufgeschlagen, auf dem er zuweilen zu schlafen pflegte.
Friedrich Adler muss sich am 18. und 19. Mai 1917 im Wiener Landesgericht in einem Aufsehen erregenden Mordprozess verantworten, dessen stenografische Protokolle vorliegen. Warum er sich nicht einmal durch den Gedanken an seine Frau, seine Kinder und seine Eltern von der Tat abhalten ließ, wird Adler von Richter Ehrenreich gefragt. Im Krieg auf fremde Menschen zu schießen, antwortet der Angeklagte, sei um nichts weniger verwerflich als ein Mordanschlag auf den Ministerpräsidenten, den er als gefährlichen Kriegshetzer sah. Es könne nicht sein, dass geschichtliche Taten nur von kinderlosen Waisen durchgeführt werden dürfen.
Danach beginnt Friedrich Adler mit der Schilderung des Tathergangs: »Hinter dem Tisch des Grafen Stürgkh saß eine Dame. Es ist dort ein Durchgang zwischen Säule und Wand, durch den man durchschießen könnte, und ich habe mir gesagt, wenn ich danebenschieße, könnte ich die Dame treffen, und ich sagte mir, das kann ich nicht tun … Dann ging die Dame weg, um 2 oder 1/2 3 Uhr. Die Uhr des Hotels war gerade vor mir. Von dem Momente an sagte ich mir: Jetzt muss es geschehen. Doch es kamen immer wieder Kellner dazwischen, die den Grafen Stürgkh bedienten. Es bewegten sich immer mehr Leute durch den Saal … Dann kam ein Moment, wo kein Kellner da war und da gab es mir einen Ruck und ich bin vorgegangen. Es war eine Überraschung für mich, wie schnell die Automatik funktioniert hat, so dass die Schüsse gefallen sind.«
Die Einvernahme Adlers, der mit einem Browning-Revolver auf Stürgkh geschossen hat, dauert fast sechs Stunden. »In dem rückwärtigen Saale des Restaurants saßen einige hohe Offiziere«, fährt Friedrich Adler fort. »Sie haben mich dann am Kragen gewürgt und mir die Brille heruntergerissen, und über mir war ein Säbel. Da habe ich gerufen, ich bin Dr. Adler, ich stelle mich dem Gericht …« An anderer Stelle erklärt er, zu diesem Zeitpunkt bereits mit seinem Leben abgeschlossen zu haben.
Friedrich Adler ist vor dem Ausnahmegericht nicht bereit, die Strategie seines Vaters, er hätte in einem Anfall von Geistesverwirrung gehandelt, zu übernehmen. Er legte sogar Wert darauf, die volle Verantwortung für die Tat zu übernehmen, weil sie als Wahnsinnstat für ihn, für das Land und für die internationale Arbeiterbewegung »nutzlos gewesen wäre«.
Am 19. Mai 1917 spricht der Vizepräsident des Landesgerichts Wien, Hofrat von Heidt, das Urteil: »Im Namen Seiner Majestät des Kaisers. Friedrich Adler ist schuldig, gegen Dr. Karl Graf Stürgkh in der Absicht, ihn zu töten, durch Abgabe von drei Revolverschüssen auf solche Art gehandelt zu haben, dass daraus dessen Tod erfolgte. Dr. Friedrich Adler hat hiedurch das Verbrechen des Mordes begangen und wird nach § 136 zur Strafe des Todes verurteilt.«
Doch Friedrich Adler sollte seiner Hinrichtung entgehen, da kurz vor der Vollstreckung eine Amnestie für politische Gefangene eingeleitet wurde. Der Attentäter blieb in Haft, aber als Kaiser Karl in seinen Gesprächen mit dem sozialdemokratischen Parteiführer die letzte Chance zur Rettung der Monarchie sah, wollte er ein Zeichen setzen und begnadigte dessen Sohn. Nicht genug damit, dass Friedrich Adler am 1. November 1918 aus der Strafanstalt Stein entlassen wurde, stellte ihm der Kaiser für die Fahrt aus dem Gefängnis sogar seinen privaten Gräf & Stift-Wagen zur Verfügung.
Den Thron kann er auch dadurch nicht retten. Wenige Tage später werden Victor Adler und die österreichisch-ungarische Monarchie gleichzeitig zu Grabe getragen.