Angela Autsch. Annemarie Regensburger
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„Ja, August, das stimmt. Manches Mal frage ich mich, was wohl aus ihr werden wird. Sie ist empfindsamer als die anderen, vor allem, wenn es um religiöse Dinge geht. Ich bin immer wieder erstaunt, wie selbstverständlich sie auf Gott vertraut.“
„Ja, darauf müssen wir auch wieder mehr vertrauen. Ich glaube, dass schwierige Zeiten auf uns zukommen. Wo ich auch hinkomme, höre ich Schlagwörter wie:
‚Kampf um Lebensraum‘, ‚Kampf um eine nationale Existenz‘. Die Deutschen wollen expandieren und unser Kaiser Wilhelm unterstützt dies noch. Wenn das nur nicht zu einem Krieg führt.“
Marie klopft das Herz bis zum Hals. Sie läuft in ihre Kammer, kriecht unter ihre Bettdecke und betet, bis sie einschläft.
„Macht es gut, Kinder“, ruft die Mama ihren fünf Kindern nach, die sich nach dem langen Sommer auf den Schulweg machen. Ein eigenartiges Gefühl beschleicht sie, als sie sieht, dass Marie den kleinen Franz an der Hand hält. Nun ist auch ihr Jüngster in der Schule. Sie geht zurück ins Haus, das auf einmal so still ist, und räumt den Tisch ab. Plötzlich wird ihr schwindlig. Sie muss sich hinsetzen. Eine Schwäche überkommt sie. Ein paar Tränen rollen ihr über die Wangen. Es ist, als ob sie sich heute zum ersten Mal eingestehen kann, dass sie erschöpft ist. Sieben Kinder in elf Jahren haben an ihrer Substanz gezehrt. Auch wenn sie froh ist, dass nun alle Kinder „aus dem Ärgsten draußen sind“, wie man im Volksmund sagt, überkommt sie heute ein eigenartiger Schmerz. Sie spürt, dass sie die Kinder nicht halten kann, dass sie ihre eigenen Wege finden müssen. Die unruhige politische Lage macht ihr ebenfalls Sorgen. Die Männer diskutieren im nahen Gasthaus viel lauter und aggressiver als noch vor kurzer Zeit. Wenn nur kein Krieg kommt!
Sie gibt sich einen Ruck, steht auf und macht sich an die Arbeit.
Inzwischen haben die Kinder den Schulhof erreicht. Marie übergibt der Lehrerin der ersten Klasse ihren kleinen Bruder Franz, der noch etwas verängstigt in die Klasse hineinschaut.
„Du brauchst keine Angst zu haben“, sagt Marie. „Ich hole dich nach der Schule wieder hier ab.“
Die Schülerinnen und Schüler der siebten Schulstufe begrüßen einander lautstark. Marie fragt ein paar Buben: „Hat jemand von euch auch im Sommer den Fahrradfahrer gesehen?“ Ein Bub antwortet lachend: „Ja. Sobald ich selber ein Geld verdiene, kaufe ich mir auch ein Fahrrad.“ Marie lächelt und sagt: „Ich auch!“
Jahre später werden diese zwei öfters miteinander eine Radtour machen und der inzwischen erwachsen gewordene Bub wird Marie den Hof machen.
Der Lehrer macht die Kinder aufmerksam, dass in diesem Schuljahr die Vorbereitung für das Sakrament der Firmung stattfindet. Marie spürt ihr Herz klopfen. Auch wenn sie die anderen Fächer gerne mag, so ist ihr doch Religion am liebsten. Sie sehnt sich danach, durch die Geistkraft Gottes gestärkt zu werden. Für sie ist die Verbindung von oben nach unten und von unten nach oben etwas ganz Natürliches. Heute würde man sagen, oben und unten sind eins. Ein Jahr später, am 12. September 1913, dem Fest Mariä Namen, ist im Hause Autsch schon am frühen Morgen viel los. Marie, Amalia, Gertrud und Wilhelm ziehen sich ihr bestes Gewand an. Die Mama hat am Vorabend den Mädchen wieder Locken mit der Brennschere gemacht. Bei allen fallen die Haare heute wunderschön. Der Vater steht bereits mit dem Pferdefuhrwerk vor dem Haus und ruft: „Kinder, seid ihr endlich fertig? Wir müssen fahren!“
Die vier Firmlinge laufen aus dem Haus, winken der Mama in der Haustüre, steigen in den Wagen und fahren los. Seit ihrer Erstkommunion waren sie nicht mehr in Schönholthausen, der Mutterpfarre der umliegenden kleinen Gemeinden.
Was ist das für sie eine Aufregung, mit den vielen Kindern in der Kirche zu sitzen. Und dann der Höhepunkt! Dem Bischof von Paderborn wird die Bischofsmütze aufgesetzt. Er nimmt den Bischofsstab und spendet dann jedem einzelnen Kind durch eine Berührung seiner Hand an der Wange des Kindes das Sakrament der Firmung. Marie spürt förmlich, wie die Geistkraft sie erfüllt. Als dann anschließend die ganze Gemeinde „Großer Gott, wir loben dich …“ miteinander singt, ist für Augenblicke für alle der Himmel offen.
104 Jahre später, im Oktober 2017, bei der Gedenkmesse für Schwester Angela Autsch, machen die GottesdienstbesucherInnen wieder eine ähnliche Erfahrung.
Langsam füllt sich die Kirche St. Nikolaus in Innsbruck. Eine besondere Spannung liegt in der Luft. Heute wird im Gedenken an Schwester Angela Autsch die „Erdwärtsmesse“ gefeiert. Der Tiroler Komponist Peter Jan Marthé hat diese Messe komponiert. Gefeiert wird mit dem ehemaligen Erzbischof von Salzburg, Alois Kothgasser. Frauen und Männer aus der Diözese Innsbruck tragen mit Texten zum Gelingen dieses Gottesdienstes bei. Ich knie mich neben eine geistliche Schwester und frage sie, wer sie ist.
„Ich bin Schwester Evangelista aus Mödling, auch eine Trinitarierin wie Schwester Angela Autsch.“
Ich lächle und sage ihr, dass ich sie und die anderen Schwestern in Mödling besuchen möchte, weil ich einen Roman über das Leben von Schwester Angela Autsch schreiben werde. Sie nickt, ein Händedruck, die Orgel braust auf. Die Menschen stehen auf, im Mittelschiff kommen von hinten die Ministrantinnen und Ministranten, die Mitzelebranten und zum Schluss der Bischof mit Hirtenstab und Bischofsmütze am Haupt.
Barbara – ihr Name bedeutet „die Fremde“ – begrüßt alle Anwesenden. Sie ist wirklich eine Fremde im noch immer nur von Männern beanspruchten Altarraum. Sie stammt aus Mötz und hat sich ganz besonders für das Wiedererwachen der Erinnerung an Schwester Angela Autsch eingesetzt und mit großem Einsatz diesen Gottesdienst koordiniert.
„Kommt, singt dem Herrn ein neues Lied, preist ihn, der uns geladen …“, beginnt der Chor das erste Lied und mit hundertfachen Kehlen stimmen die Menschen mit ein, lassen den Alltag hinter sich, lassen sich mittragen von den Klängen der Instrumente. Das gesprochene Wort am Altar gibt die nötige Erdung, dass die Menschen nicht mit Flügeln emporgehoben werden. Irgendwann vor der Kommunion, dem Zentrum christlicher Gemeinschaft, während der Chor singt, heißt es: „Wer mich liebt, der bleibt in mir und ich in ihm“, ich dichte noch schnell dazu „und auch in ihr“. In diesem Moment bricht ein Sonnenstrahl in den Kirchenraum. Die Fenster glänzen noch bunter, die Menschen singen noch inbrünstiger. Es ist, als ob Schwester Angela auf diese Weise ihr Lächeln über Raum und Zeit hinweg erdwärts senden würde. Für einen Augenblick ist die Trennlinie zwischen Wissen und Glauben aufgehoben, für kurze Zeit ist alles eins. Am Abend schreibe ich dem Komponisten und dem Chor einen Text zur Erdwärtsmesse:
Erdwärts
strömt die Geistkraft
taucht
in Allem
was lebt
ein –
trifft mitten
in ein Herz
das einfängt
himmlische Klänge
sie umsetzt
bis die Klänge
tausendfach
himmelwärts
klingen –
Für einen
Augenblick