Du darfst nicht sterben. Andrea Nagele

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Du darfst nicht sterben - Andrea Nagele страница 3

Автор:
Серия:
Издательство:
Du darfst nicht sterben - Andrea Nagele

Скачать книгу

Körper reagiert nicht mehr. Er ist lahm, wund und unbeweglich. Alles an mir ist erschlafft.

      Paul schwimmt über mir, seine rudernden Arme wirbeln das Wasser auf. Luftbläschen steigen zwischen uns hoch. Er lässt sich nach unten sinken, greift mit der Hand nach meinem Kopf, zieht mich zu sich. Seine Lippen berühren meine und pressen sie hart auseinander, sein Atem füllt meine Lunge.

      »Du hast es nicht anders verdient«, zischt er am tiefsten Punkt des Ozeans in mein Ohr.

      Ein messerscharfer Schmerz durchzuckt meine Kehle. Benommen sehe ich, wie sich das Wasser blutrot verfärbt.

      »Rettet mich!«, flehe ich die uralten Meeresgötter an.

      Aber die wenden sich ab.

      Nichts ist zu hören, außer dem anhaltend schrillen Kreischen eines Nebelhorns.

      Irgendjemand muss mich geborgen haben, denn ich liege mit einer Sauerstoffmaske über dem Gesicht im Bett eines Krankenzimmers.

      Unter meinen zuckenden Augenlidern nehme ich den Raum nur schemenhaft wahr. Schläuche ranken sich wie Lianen um meinen Körper, verbinden mich mit Geräten. Benommenheit trägt mich. Ich fühle mich wie eingehüllt in einen flauschigen Wattebausch.

      Die Träume und Bilder in meinem Kopf sind verworren. Sie gleichen Labyrinthen grüner Sträucher, aus denen es keinen Ausgang gibt. Wäre ich Künstlerin, könnte ich ganze Bilderfolgen intensiver Farben malen. Sind nicht Gauguin solch berauschende Gemälde zu verdanken? An ihn und seine Tropenbilder muss ich immerzu denken. Die üppigen Blüten Hiva Oas in betörenden Schattierungen. Wildgrüne Ranken. Lilien.

      Hieß Gauguin nicht Paul?

      Paul.

      Hanna.

      Anne.

      Angst lähmt mich. Das Schrillen der Töne schwillt an.

      Jemand beugt sich über mich. Ich bin so müde, kraftlos und schwer. Sinke dem Meeresgrund entgegen. Lasse mich von weichen Wellen treiben.

      Lange Zeit ist da nichts. Dann ein sengender Schmerz. Ich werde gestochen. Mein Arm hebt sich und fällt zurück auf das Laken.

      Ich schwebe an die Zimmerdecke.

      Unter mir sehe ich waberndes Weiß. Unruhige Flächen aus wogenden Arztkitteln. Ein Kahler beugt sich über mein Bett. Finger spreizen sich, tanzen auf und ab, zerren an einem Stück Stoff. Etwas reißt. Knöpfe fliegen. Unter mir spielt ein lebhaftes Marionettentheater.

      Noch halte ich die Fäden in der Hand.

      Lautes Reden, das ich nicht verstehe, hallt zu mir empor.

      Unser alter Kindergartenreim kreischt durch meinen pochenden Schädel: »An der Decke kleben, runterfallen, auf die Erde knallen, ja so ist das Leben!«

      Mein Lachen quält sich als raues Stöhnen aus meiner Kehle.

      Ein metallisch funkelndes Gerät wird an das Bett geschoben. Erstaunt sehe ich, wie mein Körper aus den Tüchern emporschnellt. Ein-, zwei-, dreimal. Immer wieder fliege ich durch die Luft. Das Tempo ist atemberaubend.

      Ich stehe unter Strom.

      Heiße Energie durchflutet mich, und ich schreie.

      Da ist das bleiche Gesicht meiner Zwillingsschwester. So nah, so unendlich vertraut.

      Anne beugt sich über mich und küsst meine Wangen. Ihre Tränen benetzen mein Gesicht und vermischen sich mit den meinen.

      4

      Das Brummen der Lastwagen lässt die halb gekippte Fensterscheibe vibrieren. Die Vorhänge wehen im Morgenwind.

      Mit einem Satz springt Paul aus dem Bett. Auf dem Weg ins Bad hält er inne.

      Während er unruhig geschlafen hat, muss es geregnet haben. Es riecht nach feuchter Erde.

      Schwere Wolken bedecken den Himmel. Noch hat der Tag zu wenig Kraft, die Nacht zu verdrängen. Das Stück Straße, das er, angestrahlt vom Scheinwerferlicht vorbeihuschender Autos, erkennen kann, glänzt schwarz vor Nässe. Auf den mattgrünen Sträuchern glitzern Wassertropfen. Zu dieser frühen Stunde wirkt alles unverbraucht. Neu.

      Die Erinnerung stürzt so heftig auf ihn ein, dass ihm die Luft wegbleibt.

      Sein Plan, Lili zu finden und sie mit nach Hause zu nehmen, ist gescheitert. Die gelb markierten Orte auf seiner inneren Landkarte verblassen, lösen sich allmählich auf. Er hat die Orientierung verloren.

      Anne ist tot.

      Und Lili wird nicht mehr in die gemeinsame Wohnung zurückkehren. Die Polizei hat sicher bereits eine neue Bleibe für sie und ihre kleine Nichte gefunden.

      Auf einmal erscheint ihm alles aussichtslos. Mit dem Handrücken wischt er sich den Schweiß vom Gesicht und streift die Feuchtigkeit am Oberschenkel ab. Kurz überlegt er, aufzugeben, sich zu stellen. Aber dann hätte er Lili für immer verloren.

      Paul wirft einen nervösen Blick auf die Uhr an seinem Handgelenk. Es ist bereits nach fünf Uhr am Morgen.

      Ein unruhig flackerndes grünes Licht im Badezimmer zeigt an, dass der Akku wieder aufgeladen ist.

      In der Nacht hatte er begonnen, seinen Bart mit Schere und Rasierer zu stutzen. Dabei muss er sich geschnitten haben. Neben seinem Ohr spürt er Schorf, und auf dem Kragen des T-Shirts sind zwei bräunliche Flecken.

      Annes Blut war aus ihrem Hals geströmt und hatte innerhalb von Sekunden alles leuchtend rot eingefärbt.

      Behutsam setzt er den Rasierer erneut an seine Wange.

      Er mochte seinen rotbraunen Bart. Nur schweren Herzens trennt er sich von diesem perfekt getrimmten englischen Rasen. Etliche Jahre konnte er seine schmale Oberlippe damit verbergen, jetzt ist dieser Makel wieder für alle sichtbar.

      Er beugt sich über das Waschbecken, den Porzellanrand gegen seine Leiste gedrückt, und begegnet seinen kaffeebohnenbraunen Augen. Seelenlos hatte Lili sie einmal genannt. »Dein Blick hat etwas Leeres. Es ist, als wäre deine Seele darin verloren gegangen.«

      Sie hatte die unangenehme Angewohnheit, Menschen über ihre Augen ergründen zu wollen.

      Als sich seine empfindliche Haut schließlich käsig und nackt über den Wangenknochen spannt, erkennt Paul sich kaum wieder. Nur die wenigen braunen Strähnen, die noch über die buschig wuchernden Augenbrauen fallen, erinnern ihn an sein früheres Ich. Aber auch die dürfen nicht bleiben. Die Veränderung muss radikal sein.

      Mit einem zornigen Schnauben setzt er den Rasierer an seinen Schädel und fräst Bahn für Bahn frei, bis sich das Licht der Neonröhre auf seiner Kopfhaut spiegelt. Unter ihm auf dem Fliesenboden bauschen sich die Haare. Angewidert zieht er den Fuß zurück.

      Kahl geschoren vom Kinn bis zum Hinterkopf, starrt ihm ein Fremder entgegen. Der da im Spiegel ist irgendwer. Austauschbar. So mag er sich nicht.

      Rasch zieht Paul sich an, stopft seine restliche Kleidung in den Seesack und wirft ihn sich über

Скачать книгу