Fear Street 58 - Die Mutprobe. R.L. Stine
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„Hört schon auf“, meinte Nora. „Und lasst uns über Tanjas Geschichte reden.“
„Okay. Und was ist die Moral von der Geschichte?“, fragte Rudy grinsend.
„Leihe dir von Nora niemals einen Bleistift aus!“, erwiderte Sam.
Alle lachten.
Nora schüttelte den Kopf. „Ganz falsch. Die wahre Moral der Geschichte ist, dass ihr mir immer glauben sollt“, sagte sie und zwirbelte eine ihrer dunkelbraunen Locken zwischen den Fingern. „Wenn ich sage, ich habe ein Gespenst gesehen, dann habe ich auch ein Gespenst gesehen.“
„Schuhu!“, machte Maura und verdrehte die Augen.
Tanja hörte nur zu, während alle anderen fünf Clubmitglieder anfingen, durcheinander zu reden. „Den Horrorclub zu gründen, war eine Superidee“, dachte sie. Die sechs Freunde trafen sich regelmäßig, tauschten Gruselgeschichten aus und jagten einander Angst ein. Es war jedes Mal wie eine Mutprobe.
Tanja war stolz darauf, die Autorin der Gruppe zu sein. Ihr gefiel der Augenblick am besten, wenn sie eine ihrer Geschichten zu Ende vorgelesen hatte. Dann bewunderten alle sie und fragten sich, wie sie bloß jede Woche eine neue Gruselgeschichte erfinden konnte.
Alle außer Sam natürlich. Denn er kannte ihr schmutziges Geheimnis. Er wusste, dass sie in den vergangenen Wochen nicht mehr zum Schreiben gekommen war.
Und so hatte Sam die letzten Geschichten für sie geschrieben.
Tanja verdrängte den Gedanken und merkte plötzlich, dass ein Mitglied des Clubs merkwürdig still war.
„Sandra?“, fragte sie. „Stimmt irgendwas nicht? Bist du in Ordnung?“
Sandra saß allein auf einem Sessel und ließ ihre langen Beine über die Armlehnen baumeln. Als Tanja ihr angespanntes Gesicht sah, packte sie das schlechte Gewissen.
„Aber ich war es doch gar nicht“, erinnerte sie sich. „Ich habe die Geschichte nicht geschrieben. Sam war es.“
„Was hast du, Sandra?“, hakte sie nach. „Hat dir die Geschichte nicht gefallen?“
Sandra befühlte ängstlich ihren Hals. Sie war ein hübsches Mädchen, groß und schlank, mit hohen Wangenknochen und schönen braunen Augen, die von ihrer dunklen Haut noch betont wurden. Wie immer trug sie die Sportjacke der Shadyside Highschool, die in den Farben Rotbraun und Grau gehalten war.
„Ob sie mir gefallen hat?“ Ungläubig riss Sandra die Augen auf. „Ich fand sie schrecklich! Warum nimmst du unsere Namen für deine Geschichten?“
Tanja hatte Sam dasselbe gefragt, als er ihr die Geschichte vor ein paar Stunden gezeigt hatte. Sie hatte eine Hausarbeit in Erdkunde fertig machen müssen, und deshalb hatte er angeboten, die Gruselgeschichte für sie zu schreiben.
Jetzt gab Tanja Sams Antwort an Sandra weiter. „So ist es doch viel gruseliger, findest du nicht auch?“
„Na ja, lass zumindest meinen Namen das nächste Mal bitte weg“, warnte Sandra sie. „Ich mag es nicht, wenn man mir die Kehle durchschneidet – noch nicht mal in einer blöden Geschichte.“
„Blöde Geschichte?“, stieß Tanja geschockt aus. Sie fühlte sich, als hätte man ihr gerade ein Messer ins Herz gestoßen.
Sandra sah sie genervt an. „Du weißt, was ich meine“, murmelte sie. „Ich will nicht mehr in den Geschichten vorkommen, okay?“
„Ich finde es voll cool, echte Namen zu verwenden“, warf Maura ein. „Dadurch wird es doch viel realistischer. Man kann sich richtig gut vorstellen, wie der Person die Kehle durchgeschnitten wird.“
„Aber ich will es mir gar nicht vorstellen!“, jammerte Sandra und griff sich erneut an den Hals.
Alle lachten.
Tanja sah Maura überrascht an. Maura war ein dickes rothaariges Mädchen mit großen grünen Augen und vielen Sommersprossen auf ihrem runden, einfachen Gesicht. Tanja war mehr als erstaunt, dass Maura sie verteidigt hatte. Denn seit Maura und Sam sich getrennt hatten und nun Tanja mit Sam zusammen war, hatte Maura ansonsten kein gutes Haar an ihr gelassen.
Sie fragte sich, ob Maura die Trennung von Sam endlich überwunden hatte. „Vielleicht können wir jetzt wieder Freunde sein“, dachte Tanja hoffnungsvoll. „Vielleicht können wir aufhören, uns anzugiften.“
Doch dann sah sie, dass Maura Sam anlächelte. „Sollte ich dir womöglich auch ein Kompliment für die Geschichte machen?“, fragte Maura ihn listig.
Sam tat so, als hätte er keine Ahnung, was Maura damit meinte.
Aber Tanja spürte, dass sie rot wurde. „Hey! Was willst du damit sagen?“
Maura zuckte mit den Schultern und fuhr sich mit der Hand langsam durch ihr kurzes, glänzendes Haar. „Das einzig Vorteilhafte an ihr“, dachte Tanja gehässig.
Tanjas Haar war noch viel hübscher – lang, blond und seidig, die vollkommene Ergänzung zu ihren klaren blauen Augen. Sie wusste, wie gut sie aussah. Und es gab außerdem immer genügend Jungen, die sie daran erinnerten.
„Ach, tu bloß nicht so unschuldig, Tanja“, sagte Maura. „Willst du etwa behaupten, Sam würde dir nicht bei deinen Geschichten helfen – so, wie er dir in Mathe hilft?“
„Er hat mir nicht geholfen“, protestierte Tanja. „Ich habe diese Geschichte selber geschrieben. Jedes einzelne Wort! Sag es ihr, Sam.“
Sam saß neben Maura auf der roten Couch. Er war groß und schlank, hatte dunkles, lockiges Haar und hübsche Gesichtszüge. Verlegen schlug er die Beine übereinander. „Äh, was immer du sagst“, steuerte er bei.
„Eine große Hilfe“, dachte Tanja verbittert. Sie fragte sich, ob er ihr Geheimnis Maura womöglich verraten hatte. Manche Jungs waren so seltsam und blieben ihrer Exfreundin noch ewig treu.
Manchmal wunderte Tanja sich, warum sie eigentlich mit Sam zusammen war. Er redete kaum noch mit ihr und küsste sie so gut wie nie. Ein toller Freund.
„Er macht bloß noch meine Hausaufgaben. Nächste Woche schreibe ich die Geschichte wieder selber“, schwor sie sich.
Sie lächelte Maura an. „Okay, Maura, was hältst du davon, wenn meine nächste Story von dir handelt? Natürlich wirst du das Opfer sein.“
„Solange du dafür sorgst, dass ich durch Schokolade sterbe!“, witzelte Maura.
Alle außer Sandra lachten. Sie kletterte aus ihrem Sessel und reckte träge ihre langen Arme in die Höhe. „Jetzt drehst du total durch, Tanja, oder?“, sagte sie.
„Sandra, was hast du für ein Problem?“, gab Tanja zurück.
„Andere Leute haben auch Gefühle“, beschwerte sich Sandra. „Daran solltest du dich erinnern, wenn du eine neue Geschichte schreibst.“
Tanja sah sich im Zimmer um. Alle beobachteten sie und warteten auf ihre Antwort. Sie versuchte, die angespannte Atmosphäre mit einem Scherz aufzulockern.