Eine illegitime Kunst. Pierre Bourdieu
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Man macht es sich zu leicht, wenn man jeden Versuch, die Erfahrungen der handelnden Subjekte in eine objektive Deskription wiedereinzuführen, dadurch in Mißkredit bringt, daß man diese methodologische Forderung mit jenen Versionen einer petitio principii in eins setzt, die gewisse Verteidiger geheiligter Rechte der Subjektivität den Sozialwissenschaften entgegenhalten, ohne gewahr zu werden, daß sie der methodologischen Entscheidung, »die soziologischen Tatbestände wie Dinge zu betrachten«, ihre entscheidenden Fortschritte verdanken.
Im übrigen ist es durchaus verlockend, die Vorstellung einer allgemeinen Anthropologie zurückzuweisen, da diese ordnende Vorstellung ja durchaus als ein unerreichbares Ideal erscheinen muß: Tatsächlich weicht der Punkt immer weiter zurück, von dem aus der Soziologe in einem einheitlichen, umfassenden Zugriff die objektiven Verhältnisse, deren er allein um den Preis einer abstrakten Konstruktion habhaft werden kann, sowie die Erfahrung erschließen könnte, in der diese Verhältnisse wurzeln und ihre Bedeutung gewinnen.
Der subjektivistische Intuitionismus, der den Sinn in der Unmittelbarkeit des Erlebten zu finden hofft, verdiente nicht einen Augenblick Gehör, diente er nicht dem Objektivismus als Alibi, einem Konzept, das sich damit begnügt, regelhafte Beziehungen festzustellen und deren statistische Signifikanz zu überprüfen, ohne deren Bedeutung zu entziffern, und das ein abstrakter und formaler Nominalismus bleibt, solange ihm das unerläßliche Moment der Objektivierung als unüberschreitbare Schranke gilt. Sollten der Umweg über die Feststellung statistischer Regelmäßigkeiten und die Formalisierung wirklich der Preis sein, den man für den Bruch mit der naiven Vertrautheit und den Illusionen des unmittelbaren Erlebnisses zu entrichten hat, so hieße das, das anthropologische Projekt zu leugnen, d. h. den Versuch aufzugeben, die verdinglichten Bedeutungen zurückzuerobern anstatt die kaum wiedergewonnenen Bedeutungen in der Abstraktion zu verdinglichen.
Die Soziologie hat die Überwindung der fiktiven Opposition, wie Subjektivisten und Objektivisten sie willkürlich entstehen lassen, zu ihrer Voraussetzung. Soziologie als objektive Wissenschaft ist deshalb möglich, weil es äußere, notwendige und vom individuellen Willen unabhängige Beziehungen gibt, die, wenn man so will, unbewußt sind (in dem Sinne, daß sie sich nicht der einfachen Reflexion erschließen) und sich nur über objektive Beobachtung und Experiment dingfest machen lassen – anders ausgedrückt, weil die Subjekte nicht über die ganze Bedeutung ihres Verhaltens als unmittelbares Datum des Bewußtseins verfugen, und weil ihr Verhalten stets mehr an Sinn umfaßt, als sie wissen und wollen; weil die Soziologie keine rein reflexive Wissenschaft sein kann, die einzig durch Rückgriff auf die subjektive Erfahrung zur absoluten Gewißheit gelangt, und weil sie zugleich eine objektive Wissenschaft des Objektiven (und des Subjektiven), d.h. eine experimentelle Wissenschaft ist. Und die Erfahrung ist, in den Worten Claude Bernards, »die einzige Mittlerin zwischen dem Objektiven und dem Subjektiven«.1 »Der Experimentator, der sich Naturerscheinungen gegenübersieht«, heißt es bei Bernard weiter,
»gleicht einem Zuschauer, der eine stumme Szene beobachtet. Er ist in gewisser Weise der Untersuchungsrichter der Natur; allerdings, statt sich mit Menschen auseinanderzusetzen, die versuchen, ihn mit wahrheitswidrigen Geständnissen oder falschen Aussagen zu täuschen, hat er es mit natürlichen Phänomenen zu tun, die für ihn Personen sind, von denen er weder die Sprache noch die Sitten oder die Lebensverhältnisse kennt und deren Intentionen er dennoch erfahren möchte. Zu diesem Zweck bedient er sich aller Mittel, die ihm zu Gebote stehen. Er beobachtet ihre Wirkungen, ihren Ablauf und ihre Manifestationen und versucht, deren Ursache mit Hilfe unterschiedlicher Versuche herauszufinden, die als Erfahrungen bezeichnet werden. Er bedient sich sämtlicher vorstellbarer Kunstgriffe, behauptet sozusagen das Falsche, um die Wahrheit zu erfahren, und unterschiebt der Natur seine eigenen Anschauungen. Er stellt Vermutungen an über die Ursache der Vorgänge, die sich vor ihm abspielen, um herauszufinden, ob die seiner Deutung zugrunde liegende Hypothese richtig ist, und er richtet es so ein, daß Ereignisse eintreten, die nach der logischen Ordnung der Dinge als Bestätigung oder Widerlegung der Vorstellung dienen können, die er sich gemacht hat«.2
Diese Beschreibung der Verfahrensweise des Experimentators, der sich der natürlichen Welt nähert wie der Ethnologe einer Gesellschaft, deren Kultur er nicht kennt, gilt in groben Zügen auch für die soziologische Forschung. Ob er »Intentionen« ausfindig zu machen sucht (ganz im Sinne Bernards, d.h. objektive Intentionen), die hinter objektiven Indikatoren verborgen liegen, oder ob er das Falsche behauptet, um die Wahrheit zu ermitteln, und über indirekte Fragen die Antwort auf seine wirklichen Fragen erhalten möchte, auf die die einzelnen Subjekte, dazu gebracht, sich selbst statt andere zu täuschen, bloß indirekt antworten können und ohne sich ihrer Antwort bewußt zu sein, oder ob er die in den Regelmäßigkeiten, die ihm die Statistik als Rohdaten liefert, verschlüsselte Bedeutung entziffert – die Arbeit des Soziologen zielt auf die Wiedergewinnung eines objektivierten Sinns, das Produkt der Objektivierung der Subjektivität, das sich weder dem praktisch Tätigen noch dem Beobachter jemals unmittelbar erschließt.
Doch im Unterschied zur Naturwissenschaft kann sich eine allgemeine Anthropologie nicht mit der Rekonstruktion objektiver Beziehungen zufriedengeben, da die Erfahrung der Bedeutung dieser Beziehungen zum vollständigen Sinn dieser Erfahrung dazugehört: Selbst eine Soziologie, auf die nicht der geringste Verdacht des Subjektivismus fällt, bedient sich vermittelnder Begriffe zwischen Subjektivem und Objektivem wie Entfremdung, Einstellung oder Ethos. So ist es ihre Aufgabe, jenes System von Beziehungen zu konstruieren, das sowohl den objektiven Sinn der nach feststellbaren Regelmäßigkeiten organisierten Verhaltensformen als auch die einzelnen Beziehungen umschließt, welche die Subjekte zu ihren objektiven Existenzbedingungen und dem objektiven Sinn ihres Handels unterhalten, einem Sinn, dessen Objekt sie sind, nachdem man sie seiner beraubt hat.
Anders gesagt, die Deskription der objektivierten Subjetivität verweist auf die Deskription der Verinnerlichung der Objektivität. Die drei Momente des wissenschaftlichen Vorgehens sind daher unauflöslich miteinander verknüpft: Die unmittelbare Erfahrung, deren man über Äußerungsformen habhaft wird, die den objektiven Sinn ebensosehr verschleiern, wie sie ihn enthüllen, verweist auf die Analyse von objektiven Bedeutungen und gesellschaftlichen Bedingungen der Möglichkeit dieser Bedeutungen, eine Analyse, die wiederum die Konstruktion der Beziehung zwischen den Handlungssubjekten und dem objektiven Sinn ihrer Verhaltensformen erfordert.
Zum Beweis, daß es sich dabei nicht um eine petitio principii, sondern um eine theoretisch begründete methodische Forderung handelt, mag ein Beispiel genügen. Die Statistik erfaßt objektiv das System der Chancen, die objektiv mit der Zugehörigkeit zu einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe verbunden sind, gleichgültig, ob es dabei um die Chance einer festen Anstellung eines algerischen Subproletariers geht, der weder eine Qualifikation noch eine Schulbildung nachweisen kann, oder um die Chance der Tochter eines Arbeiters, in die juristische oder medizinische Fakultät aufgenommen zu werden. Eine solche Statistik bleibt indes so lange abstrakt und gleichsam unwirklich, als man nicht weiß, wie diese objektive Wahrheit (die niemals unmittelbar greifbar ist) sich in der Praxis der Subjekte umsetzt: Selbst wenn auf den ersten Blick deren Verhalten und sprachliche Äußerungen eine Zukunft, die in den objektiven Bedingungen objektiv beschlossen liegt, Lügen strafen, so erweist sich ihre ganze Bedeutung erst dann, wenn man sich klarmacht, daß sie den praktischen Hinweis auf diese Zukunft implizieren. Beispielsweise entwickeln Subproletarier gelegentlich magische und phantastische Hoffnungen, die aber der objektiven Wahrheit ihrer Lage nur scheinbar widersprechen, da sie jene Zukunftsperspektive charakterisieren, die Menschen eigentümlich ist, die keine objektive Zukunft haben; beispielsweise kann die Tochter eines Arbeiters oder Bauern, für die die Statistik ausweist, daß ihre Rückstufung in der philosophischen Fakultät sie das höhere Lehramt gekostet hat, ihr Studium durchaus als Erfüllung einer »Berufung« erleben, obgleich ihre praktischen Tätigkeiten, vor allem in ihrer Modalität, einen praktischen Konnex mit der objektiven Wahrheit ihrer Lage und ihrer Zukunft verraten.3