Eine illegitime Kunst. Pierre Bourdieu
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D.T. Suzuki, Über Zen-Buddhismus
Woran liegt es, daß die Beschäftigung mit der Photographie so überaus verbreitet ist, daß es jedenfalls in den Städten nur wenige Haushalte ohne Kamera gibt? Genügt es, zur Erklärung auf den leichten Zugang zu den Instrumenten dieser Praxis und zum Gebrauch dieser Instrumente hinzuweisen? Sicherlich sind Photoapparate preiswert. Und im Unterschied zu relativ anspruchsvollen Tätigkeiten, z.B. dem Musizieren, erfordert das Photographieren nur eine schmale oder gar keine Ausbildung. Es stehen ihm also weder ökonomische noch technische Hemmnisse entgegen. Das erklärt seine Verbreitung aber nur dann hinreichend, wenn man unterstellt, daß der photographische Konsum auf ein Bedürfnis antwortet, das in den Grenzen der jeweiligen wirtschaftlichen Kapazitäten befriedigt werden kann. Doch läuft das nicht darauf hinaus, das soziologische Problem zum Verschwinden zu bringen, indem man als Erklärung ausgibt, was die Soziologie erst noch zu erklären hätte? Die psychologische Erklärung durch »Motivationen« bezieht ihr hauptsächliches Argument aus dem Umstand, daß es eine starke Korrelation zwischen dem Besitz eines Photoapparates und dem Einkommen gibt.1 Daraus folgert man, die Kamera sei ein Haushaltsgut, vergleichbar dem Auto oder dem Fernsehgerät, und ihr Besitz sei ein Indikator des Lebensstandards.2 Wenn ein Einkommensanstieg quasi automatisch die Verbreitung des Photoapparats und die Zahl der Photographen erhöht, dann macht es in der Tat einen Sinn anzunehmen, es gebe eine »natürliche« Neigung zur Beschäftigung mit der Photographie, eine Neigung, die unabhängig von Milieu und individueller Lage konstant gedacht werden könne, da sie, gespeist von universellen »Motivationen«, keinen gesellschaftlichen Bedingungen unterliege. Nach dieser Hypothese ist das – positive oder negative – Verhalten lediglich die Resultante zweier Kräfte: der mehr oder weniger starken »Motivationen« einerseits, die den Anreiz zum Handeln liefern, und der »Bremsen« andererseits, die im Einzelfall die Handlung verhindern.
Daraus ergibt sich ein Modell der Motivationen für die Beschäftigung mit der Photographie.3 Der Akt, Photos aufzunehmen, sie aufzubewahren oder sie anzuschauen, kann in fünffacher Weise als befriedigend erlebt werden: »als Schutz gegen die Zeit, als Kommunikation mit anderen und Ausdruck von Empfindungen, im Sinne von Selbstverwirklichung, unter dem Aspekt des gesellschaftlichen Prestiges sowie als Zerstreuung oder Flucht aus dem Alltag«. Demnach bestünden die Funktionen der Photographie darin, erstens die Angst zu mindern, die Vergänglichkeit und Zeitlichkeit der Existenz in uns wecken, indem sie entweder einen magischen Ersatz für das bietet, was die Zeit zerstört hat, oder indem sie der Schwäche unseres Gedächtnisses abhilft und uns erlaubt, die mit den Bildern verbundenen Erinnerungen heraufzubeschwören, kurz, indem sie uns glauben macht, uns der Zeit als zerstörerischer Macht entwinden zu können; zweitens darin, die Kommunikation mit anderen zu erleichtern, gemeinschaftlich vergangene Situationen zu rekonstruieren oder anderen unser Interesse oder unsere Zuneigung zu bekunden; drittens darin, dem Photographen ein Mittel zur Verfügung zu stellen, »sich zu verwirklichen«, indem sie ihn in der magischen Aneignung oder der faszinierten oder karikierenden »Neuschaffung« des abgebildeten Gegenstandes seine eigene »Macht« erfahren läßt oder indem sie ihm die Möglichkeit gibt, »seine Gefühle intensiver zu empfinden«, einen künstlerischen Vorsatz auszudrücken oder seine technische Meisterschaft zu offenbaren; viertens darin, mittels technischer Leistungen, der Dokumentation einer persönlichen Anstrengung, einer Reise oder eines Vorkommnisses oder durch demonstratives Konsumverhalten bestimmte Prestigebedürfnisse zu befriedigen; und schließlich fünftens darin, den Anforderungen der Realität für eine Weile zu entkommen, oder sich einfach zu zerstreuen, wie bei einem Spiel. Gemessen an diesen fünf Funktionen oder Möglichkeiten bildeten »das schmale Portemonnaie, die Angst, zu versagen oder sich lächerlich zu machen, und der Wunsch, Schwierigkeiten zu vermeiden«, die hauptsächlichen Schranken für eine Beschäftigung mit der Photographie.
Mit dieser Erklärungsmethode, die »auf dem Prinzip beruht, das Verhalten der Einzelnen erklären und verstehen zu wollen, ohne [...] sich mit den Gründen zufriedenzugeben, die die Individuen selbst dafür benennen«, kommt man am Ende freilich nicht zu mehr als einem zusammenhanglosen Katalog von Gründen oder Rationalisierungen, auf die sich jedermann berufen kann, um seine Aktivität oder seine Abstinenz zu rechtfertigen. Diese »Vulgata«, eine Denkfigur, die auf halbem Wege zwischen alltäglicher Plauderei und wissenschaftlichem Diskurs angesiedelt ist, erfüllt ihre Rolle perfekt: Es gelingt ihr, die Illusion zu erzeugen, Wahrheiten zu enthüllen, wo sie im Grunde nur Gemeinplätze mobilisiert und sie in eine Sprache kleidet, die sich für wissenschaftlich ausgibt. Und soweit sie, immerhin, die Bedeutungen und Werte, denen sich die Photographen bei ihrer Tätigkeit verpflichten oder zu verpflichten glauben, zu beschreiben beansprucht, operiert diese Art Psychologie, die angeblich der Erforschung der Tiefenschichten der Person dienen soll, mit Kategorien, in denen die dünnen Reflexe der Freudschen Konzepte des Voyeurismus, des Narzißmus und des Exhibitionismus aufscheinen.
Tatsächlich ist es gerade die Absicht, die Erklärung der Photographie in Motivationen (d.h. in letzten Ursachen) zu suchen, die den Psychologen dazu verdammt, sich auf die psychischen Ausdruckselemente zu beschränken, und zwar in der Gestalt, in der sie erfahren werden, d. h. auf die »Befriedigungen« und »Gründe«, statt die gesellschaftlichen Funktionen aufzuspüren, die sich hinter den »Gründen« verbergen, und deren Erfüllung obendrein die unmittelbar genossenen »Befriedigungen« herbeiführt.4 Kurz, wer die Wirkung für die Ursache nimmt, der erklärt die photographische Praxis, die gesellschaftlichen Regeln unterworfen ist, gesellschaftliche Funktionen wahrnimmt und innerhalb dieses Rahmens als »Bedürfnis« erlebt wird, durch deren Resultat, nämlich durch die psychischen Befriedigungen, die sie verschafft.5
Es ist mehr als augenfällig, daß es nicht genügt, beispielsweise die photographische Praxis der Volksklassen als die Resultante eines Bedürfnisses zu beschreiben, das sich aus allgemeinen Motivationen und finanziellen Beschränkungen zusammensetzt, wobei das Konkrete nur noch in der algebraischen Summe zweier Abstraktionen erscheint. Die Analyse verharrt so lange bei der abstrakten Universalität von Bedürfnissen oder Motivationen, als man die Wünsche von der konkreten Situation loslöst, in der sie entstehen und mit der sie untrennbar verbunden sind, einer Situation übrigens, die objektiv durch ökonomische Zwänge und soziale Normen determiniert ist.6 Anders ausgedrückt: Individuelle Wünsche und Ansprüche werden in Form und Inhalt durch objektive Bedingungen bestimmt, die die Möglichkeit ausschließen, sich das Unmögliche zu wünschen.
Zu verstehen, was es für die Arbeiter bedeutet, gelegentlich, bei traditionell vorgezeichneten Anlässen und nach den Regeln einer traditionellen »Ästhetik« zu photographieren, kurz, die Bedeutung und die Funktion zu verstehen, welche die Arbeiter der Photographie zuschreiben, heißt, das Verhältnis der Arbeiter zu ihrer Lage zu verstehen: Ihre Beziehung zu einem beliebigen Gut umschließt die stillschweigende Berufung auf das System des objektiv Möglichen und Unmöglichen, das sowohl diese Lage als auch die Verhaltensweisen definiert, die mit dem objektiv Gegebenen, an dem sie sich gemessen fühlen, verträglich oder unverträglich sind. Daher rührt es, daß in unserem Fall des Engagement für eine selten und rudimentär betriebene Praxis und das geringe Interesse an deren Intensivierung die Verinnerlichung der Grenzen zur Voraussetzung haben, die die ökonomischen Barrieren und zugleich das Bewußtsein davon bestimmen, daß als abstrakte und unmögliche Möglichkeit eine andere Form der Praxis existiert, die für andere möglich ist. Nur so wird der Stil der Antworten von Arbeitern verständlich, die über ihre photographische Praxis befragt wurden. Die Unterstellungen, die Frage- oder Konditionalform der Sätze, die Anspielung auf die virtuosesten Photographen, die man kennt, und das oft Träumerische und Spielerische der Antworten signalisieren dieses Bewußtsein von einer abstrakten und weit entfernten Möglichkeit: »Wenn ich einen guten Apparat hätte, würde ich einem Photoklub beitreten.« »Wenn ich freie Zeit hätte ...« »Wenn ich photographieren würde, dann überall, wo ich hingehe: in den Bergen, am Strand oder in der Stadt.« All dies ist einbeschlossen in der Bemerkung, mit der man seinen Verzicht begründet: »Das ist nichts für uns«, d.h. wir sind nicht die, für die dieses Objekt oder diese Aktivität als objektive Möglichkeit existiert, ja, dieses Objekt oder diese Tätigkeit wäre für uns nur dann eine »sinnvolle«