Eine illegitime Kunst. Pierre Bourdieu

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Eine illegitime Kunst - Pierre  Bourdieu eva taschenbuch

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festhält. Nichts darf photographiert werden außer dem, was photographiert werden muß. Die Zeremonie darf photographiert werden, weil sie von der alltäglichen Routine abweicht, und sie muß photographiert werden, weil sie das Bild verwirklicht, das die Gruppe als Gruppe von sich zu vermitteln wünscht. Das, was photographiert wird und was der »Leser« der Photographie erfaßt, sind strenggenommen keine Individuen in ihrer Besonderheit, sondern soziale Rollen: der Jungvermählte, der Erstkommunikant, der Soldat, oder soziale Beziehungen: der Onkel aus Amerika oder die Tante aus Sauvagnon.

      So enthält beispielsweise die Sammlung von B.M. ein Bild, das den ersten Typus perfekt illustriert: Es zeigt den Schwager des Vaters von B. M. in der Uniform des städtischen Briefträgers. Die Schirmmütze auf dem Kopf, das weiße Hemd mit Stehkragen, die weißkarierte Krawatte, der Gehrock ohne Revers, auf der Brust eine Blechmarke mit der Nummer 471, die mit goldenen Knöpfen verzierte Weste hochgeschlossen, die Uhrkette sichtbar drapiert, so posiert er stehend, mit der rechten Hand auf ein kleines Podest in orientalischem Stil aufgestützt. Dieses Bild, das die in einen anderen Ort gezogene Tochter ihrer Familie schickte, ist nicht die Photographie ihres Mannes, sondern das Symbol seines gesellschaftlichen Erfolgs. – Eine Illustration für den zweiten Typus ist eine Photographie, die aus Anlaß eines Besuchs des Schwagers von B.M. in Lesquire aufgenommen wurde und die die Begegnung der beiden Familien feiert, indem sie auf einem Bild Onkel und Nichten, Neffen und Tanten vereint. So als habe man bekunden wollen, daß das eigentliche Objekt der Photographie nicht die Individuen sind, sondern die Beziehungen zwischen ihnen, tragen die Eltern der einen Familie auf ihren Armen die Kinder der anderen.16

      Die meisten bäuerlichen Familien »verstauen« die Photographien in einer Schachtel, ausgenommen das Hochzeitsbild und bestimmte Porträtphotos. Es wäre schamlos und indiskret, wenn jeder Besucher sofort die Bilder von Familienmitgliedern zu Gesicht bekäme. Der große Gemeinschaftsraum, die Küche, zeigt nur unpersönlichen Schmuck, der allerorten derselbe ist, einen Kalender der Post oder der Feuerwehr, Reproduktionen in aufdringlichen Farben, die man von einer Reise nach Lourdes mitgebracht oder in Pau gekauft hat. Die zeremoniellen Photographien sind entweder zu feierlich oder zu intim, als daß man sie an dem Ort des täglichen Lebens zur Schau stellen dürfte; ihr Platz ist das prunkvolle Empfangszimmer, der Salon oder, für die Photographien verstorbener Verwandter, die Kammer, neben den Votivbildchen, dem Kruzifix und dem Buchsbaumzweig über dem Weihwasserkessel. Amateurphotographien werden von den Bauern in der Schublade verwahrt, von den Kleinbürgern dekorativ gebraucht oder affektiv besetzt: vergrößert und gerahmt, schmücken sie die Wände des Wohnzimmers zusammen mit den Reisesouvenirs. Sie okkupieren sogar den Altar der Familienwerte, den Kaminsims im Besuchszimmer, ja, sie nehmen den Platz von Medaillen ein, von Ehrenauszeichnungen und Ausbildungszertifikaten, die man früher dort zur Schau gestellt hatte und die die junge Dörflerin diskret in die dunkelste Ecke verbannt hat, gleich hinter der Tür, um »die Alten« nicht zu sehr vor den Kopf zu stoßen – als hätte sie Angst, sich damit lächerlich zu machen.

      Obschon es einerseits zutrifft, daß die Städter in einem sehr allgemeinen Sinne die photographische Praxis akzeptiert haben, im Gegensatz zu den Bauern, die in ihr die Werte der urbanen Gesellschaft, die Negation der eigenen Werte erblicken und ablehnen, schreiben sie andererseits dem photographischen Bild in der Regel dieselbe Bedeutung und Funktion zu wie der Dörfler. Sie photographieren eigenhändig, was die Bauern vom Berufsphotographen aufnehmen lassen, doch ohne deshalb ein wirkliches Interesse für die Photographie im strengen Sinne zu entfalten. Auch gilt ihre Aufmerksamkeit mehr dem fertigen Bild als der Art und Weise, wie es zustande gekommen ist. Da sich das Bedürfnis, zu photographieren, in der Mehrzahl der Fälle als bloßes Bedürfnis nach Photographien erweist, wird verständlich, warum alle Faktoren, die eine Intensivierung des häuslichen Lebens und eine Verstärkung der Familienbande determinieren, das Auftreten und die Intensivierung der photographischen Praxis begünstigen.

      Wenn diese Praxis im Laufe der Jahre an Reiz verliert, dann deshalb, weil mit der im Alter schwindenden Teilnahme am sozialen Geflecht und insbesondere am Kontext einer Familie, deren Mitglieder verstreut leben, die Gründe fürs Photographieren nicht länger bestehen. Daß der Unterschied zwischen dem Anteil der Photographierenden an den Unverheirateten und dem an den Verheirateten mit zunehmendem Alter immer größer wird, hängt damit zusammen, daß die verlängerte Ehelosigkeit stets ein Indiz für eine schwächere Integration in die Gemeinschaft ist. Daß die Beschäftigung mit der Photographie in den Ferien ihre Hochkonjunktur hat, erklärt sich teilweise daraus, daß die Ferien zu den »hohen Zeiten« des Familienlebens gehören (ganz besonders die Weihnachtsferien), während deren man die Bande mit entfernten Verwandten fester knüpft und durch den Austausch von Besuchen und Geschenken den Kontakt mit den nahen Verwandten intensiviert.17 Sachverhalte dieser Art – einmal abgesehen von dem, verglichen mit den traditionellen Familienaufnahmen, relativ hohen Anteil von Landschaftsbildern bei den Oberklassen – lassen sich allesamt bis zu einem gewissen Grad mit der Lockerung der Verbindungen (die sich gewöhnlich in den Ferien wieder festigen) zwischen der Kernfamilie und den übrigen, verstreut lebenden Familienmitgliedern erklären.18 Und wenn ein enger Zusammenhang besteht zwischen der Beschäftigung mit der Photographie und dem Merkmal »Haushalt mit Kindern« (und zwar um so stärker, je jünger diese sind), so zweifellos darum, weil die Gegenwart des Kindes die Integration der Gruppe und zugleich die Neigung verstärkt, das Bild dieser Integration festzuhalten, ein Bild, das seinerseits wiederum der Verstärkung der Integration dient.19 Dem »Familiengesetz« den Obolus zu entrichten, wird als zwingend empfunden: »Die Bilder von meinem Kleinen, ach so, ja, die lasse ich gleich dreimal abziehen, die brauche ich für die Großeltern und die Patentante.« Da die Photographien die besonderen Zeichen und Werkzeuge der Geselligkeit innerhalb der Familie sind, wird die Pflicht, die Verwandtschaft damit zu versorgen, deutlich wahrgenommen; sich ihr zu entziehen gilt als unhöflich oder als Aufkündigung des guten Einvernehmens. »Photos für die Familie? Das ist unvermeidlich, es ist eben höflicher. Wir schicken sie an Gott und die Welt, es ist völliger Blödsinn und kostet nur Geld, aber es gibt immer welche, die sich sonst ärgern würden.«

      Je nach dem Integrationsgrad der Familiengruppe, je nach der Intensität der Bindungen, die sie mit den Verwandten der Haupt- und der Seitenlinie unterhält, kann die Liste der berechtigten Empfänger variieren; doch im Hinblick auf die Photographien der Kinder scheinen die Großeltern, die Verwandten der (vor allem mütterlichen) Hauptlinie und die Patin in jedem Fall dazuzugehören. Die geographische Versprengtheit der einzelnen Verwandten verlangt gebieterisch die mehr oder weniger regelmäßige Wiederbelebung der Verwandtschaftskontakte, und dem genügt die Photographie besser als der bloße Austausch von Briefen.

      Das Photo selbst ist in den allermeisten Fällen nichts anderes als eine Reproduktion des Bildes, das der Gruppe von ihrer Integration. Unter den Photographien, auf denen Personen abgebildet sind, zeigen fast drei Viertel Gruppen und mehr als die Hälfte Kinder, allein oder gemeinsam mit Erwachsenen; Photos, auf denen Kinder zusammen mit Erwachsenen erscheinen, verdanken ihre Häufigkeit und ihr feierliches Aussehen (das sich vor allem in der konventionellen Starrheit der Posen ausdrückt) dem Umstand, daß sie das Bild des Familiengeschlechts festhalten und symbolisieren.20

      Da sie das Objekt einer kollektiven und quasi-zeremoniellen Betrachtung herzustellen vermag, verlängert vor allem die Farbphotographie das Fest, an dem sie teilnimmt und dessen Bedeutung sie signalisiert. Der festliche Gebrauch, den man vom Festbild macht, haftet diesem wie ein Signum an und inspiriert seine Genese21; gerade weil sie wie dazu geschaffen ist, als Technik des Festes oder, genauer gesagt, als Technik der Wiederholung des Festes zu dienen, hält sie die eklatant euphorischen und euphorisierenden Augenblicke fest, den Walzertanz der Schwiegermutter oder die »unbezahlbaren Spaße der Stimmungskanone«. Selbst außergewöhnlich, erfaßt sie außergewöhnliche Gegenstände, die »schönen Augenblicke«, die sie in »schöne Erinnerungen« verwandelt. In ritueller Weise mit dem Fest, mit der Familienzeremonie oder dem Freundestreffen verknüpft, steigert sie den Eindruck des Festes als außergewöhnliches Ereignis, indem sie ihm dieses Opfer des Außergewöhnlichen gewährt. Sie wird schon jetzt so erlebt, wie sie später einmal betrachtet werden wird, und der schöne Augenblick kommt als solcher durch sie besser

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