Eine illegitime Kunst. Pierre Bourdieu

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Eine illegitime Kunst - Pierre  Bourdieu eva taschenbuch

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kleinen Minderheit, in der Aufzeichnung des Familienlebens die primäre Bestimmung der Photographie erblicken, wenn sie nach wie vor der photographischen Pose, jenen steifen und stereotypen Bildern fürs Familienalbum, Tribut zollen, obschon sie sie laut verurteilen, dann vor allem deshalb, weil sie sie für ebenso unvermeidlich halten wie die sozialen Zeremonien, die von den Bildern ihre Weihe empfangen.

      »Familienphotos? Die natürlich auch, schließlich muß man ja allen eine Freude machen. Aber das ist was ganz anderes!« (Angestellter aus Paris, 32 Jahre)

      Das Familienalbum drückt die Wahrheit der sozialen Erinnerung aus. Nichts gleicht weniger der autistischen Suche nach der verlorenen Zeit als diese kommentierten Darbietungen von Familienphotographien, Integrationsriten, denen die Familie ihre neuen Mitglieder unterwirft. Die Bilder der Vergangenheit, in chronologischer Ordnung, der »Vernunftordnung« des gesellschaftlichen Gedächtnisses gereiht, beschwören und übermitteln die Erinnerung an Ereignisse, die der Bewahrung wert sind, da die Gruppe in den Monumenten ihrer früheren Einheit ein Moment der Einigung sieht oder, was auf dasselbe hinausläuft, weil sie aus ihrer Vergangenheit die Bestätigungen der gegenwärtigen Einheit bezieht. Deshalb ist nichts geziemender, beruhigender und erbaulicher als ein Familienalbum. Alle persönlichen Begebenheiten, welche die individuelle Erinnerung in die Besonderheit eines Geheimnisses sperren, sind aus ihm verbannt, und die gemeinsame Vergangenheit oder, wenn man so will, der größte gemeinsame Nenner der Vergangenheit erscheint hier schon in der beinahe anmutigen Sauberkeit eines Grabmals, das treulich besucht wird.28

       Gelegenheiten der Praxis und gelegentlich betriebene Praxis

      So verdankt die photographische Praxis in ihrer allgemeinsten Variante der sozialen Funktion, mit der sie ausgestattet ist, das und nur das zu sein, was sie ist. In der Tat, ob es um ihre innere Rhythmik geht, ihr Gerät oder ihre Ästhetik, die Gebrauchsweise, der sie ihr Dasein schuldet, markiert gleichzeitig die Grenzen, innerhalb deren sie sich bewegen kann, und verhindert ihre Transformation in eine andere, intensivere und anspruchsvollere Praxis. Da ihre Existenz an die soziale Funktion gebunden ist, der sie dienen soll, ist sie eng mit den Lebensprozessen der Gruppe verknüpft. Ihre Beschränkung auf einige wenige Anlässe und Gegenstände limitiert zugleich ihre Ausübung. Aus dem nämlichen Grunde nimmt sie mit behelfsmäßigem oder antiquiertem Arbeitsgerät vorlieb, vorausgesetzt, es gestattet die Wahrnehmung der ihr zugewiesenen Funktion, d. h. Bilder zu liefern, die das Wiedererkennen ermöglichen. Und da sie schließlich – aus abermals demselben Grund – die Gebrauchsbestimmung, aus der sie hervorgeht, nicht abzustreifen vermag, kann sie ihre Zwecke nicht selbst setzen und die spezifischen Intentionen einer autonomen Ästhetik verwirklichen.

      Zwar stimmt, daß die allein an der Familienfunktion orientierte photographische Praxis sich ihre Grenzen selber zieht; aber es lassen sich nicht alle Varianten in Intensität und Qualität der Praxis einzig der Macht des »Bedürfnisses« nach Photographien zuschreiben (das an die Struktur und den Integrationsgrad des Familienmilieus gebunden bleibt). Soweit man beispielsweise das Bedürfnis nach Photographien befriedigen kann, ohne die Photos selbst zu machen, soweit die eigenständige photographische Praxis gar als Luxus erscheinen mag, da letztlich die selbstgefertigten Bilder in der Mehrzahl der Fälle zu den Atelieraufnahmen hinzukommen statt diese zu ersetzen, so weit ist es nur natürlich, daß die Zahl der Besitzer von Photoapparaten mit steigendem Einkommen zunimmt. Es versteht sich ebenfalls von selbst, daß innerhalb des begrenzten Ensembles von Gegenständen und sozial gebilligten Anlässen noch Raum bleibt für Nuancen in der Intensität der Praxis, die ein höheres Einkommen zuläßt.

      Viele Saisonkonformisten besitzen eine Kamera besserer Qualität und eine ganze Anzahl von Zubehörartikeln, die sie nach wie vor in den Dienst der traditionellen Funktionen der Photographie stellen. Keinesfalls darf man in dem Umstand, daß die Quote der Besitzer von hochkomplexen Photoapparaten proportional mit dem Einkommen wächst, ein Indiz für steigende Ansprüche an die Qualität der Praxis sehen: Die Intensivierung der Praxis, begünstigt durch das höhere Einkommen, das wiederum höhere Ausgaben für Filme (vor allem teure Farbfilme) erlaubt und die Anlässe zum Photographieren vervielfacht, überwindet allein noch nicht die übliche zugunsten einer qualitativ ausgefeilten Praxis. Für die meisten Käufer einer Kleinbildkamera sind deren technische Finessen als explizites Kaufmotiv nicht ausschlaggebend.

      Zahlreiche Besitzer von Kleinbildkameras wissen über deren Möglichkeiten keineswegs genau Bescheid. Auch haben die, die nach eigenen Aussagen mit dem Gedanken spielen, eine hochwertige Kamera zu erwerben, keine bessere Fachkenntnis von deren Eigenschaften als diejenigen, die einem solchen Kauf gleichgültig oder ablehnend gegenüberstehen. Die Untersuchung einer Stichprobe von Amateurphotographen hat ergeben, daß die Besitzer hochentwickelter Apparate (mit eingebautem Belichtungs- und Entfernungsmesser oder Spiegelreflexsucher) insgesamt weniger technische Kenntnisse haben als die Besitzer von minder komplizierten Apparaten. Andererseits lassen sich die Besitzer von anspruchsvollen Kameras deutlich in zwei Kategorien unterteilen, nämlich in solche, die die Möglichkeiten ihrer Kamera gut kennen und technisch ziemlich versiert sind, und in solche, die zugeben, von der Technik ihres Apparats überfordert zu sein, und die nur über wenig professionelles Wissen verfügen. Das heißt, der Erwerb einer kostspieligen Ausrüstung scheint eher von Konsumgewohnheiten bestimmt zu sein, die qualitativ hochwertige Produkte zu bevorzugen vorschreiben, als von einer qualitativen Änderung der photographischen Ambitionen. Kurz, die Perfektionierung der zur Verfügung stehenden Mittel dringt von außen in die Photographie ein: Nichts weniger als das Resultat neuer Ansprüche, die sich unmittelbar aus der photographischen Praxis ergeben, ist diese vielmehr Ausdruck der Bemühung, einer diffusen Gruppennorm zu entsprechen.29 Es verhält sich daher keineswegs so, daß die ästhetische oder gar technische Qualität des produzierten Bildes und die Modalität der Praxis sich aus den Eigenschaften des Apparats, aus seinen Möglichkeiten oder Grenzen ableiten ließen, daß die routinehafte und stereotype Produktion der meisten Photographierenden aus den Beschränkungen erklärt werden könnte, die ihnen durch ein einfaches Gerät oder ihre technische Inkompetenz auferlegt werden. Vielmehr ist es die photographische Intention selbst, die – den traditionellen Funktionen nach wie vor untergeordnet – erst den Gedanken aufkommen läßt, sämtliche Möglichkeiten eines Apparats voll zu nutzen (welche übrigens bei dessen Auswahl kaum eine Rolle gespielt haben), und die ihre eigenen Grenzen im Felde der technischen Möglichkeiten bestimmt.

      Die verstärkte Beschäftigung mit der Photographie folgt also in den meisten Fällen aus äußeren Bedingungen, etwa der Verfugung über ein bestimmtes Einkommen und dem damit verbundenen Lebensstil, und nicht aus einer eigenständigen Modifikation der Praxis. Allerdings, obschon die familiale Funktion der Photographie mehr oder weniger vollständig und je nach Einkommen auf unterschiedlichem Niveau wahrgenommen werden kann, geschieht dies allemal nur zu bestimmten Gelegenheiten und in Gebrauchsformen, die im allgemeinen wenig intensiv sind und gegenüber ästhetischen Intentionen gleichgültig bleiben. Da die soziale Norm sowohl das festlegt, was photographiert werden muß, als auch das, was photographiert werden darf, könnte die Skala des Photographierbaren nicht unendlich erweitert werden, und mit dem Verschwinden der photographischen Anlässe müßte auch die Praxis selbst verschwinden. Nun läßt sich tatsächlich das Photographierbare nicht unbegrenzt photographieren, und außerhalb des Photographierbaren gibt es sozusagen »nichts zu photographieren«. Beispielsweise scheinen die Bauern von Lesquire die Motive in ihrer Alltagsumgebung, von den Kindern einmal abgesehen – und auch das erst seit einigen Jahren –, nicht für wert zu erachten, sie mit der Kamera aufzunehmen: Was man täglich vor Augen hat, photographiert man nicht.

      »Also wenn du z.B. eine Reise machst, dann lohnt es sich auch, Photos zu machen. Aber unsereiner, was sollen wir schon photographieren? Die Hauptstraße? Oder spielen: photographierst du mich, photographier ich dich? Ach was, das bringt nichts ein!« »Was meinst du, wer hier Lust hat, zu photographieren? Man hat sich schon zu oft gesehen. Immer dieselben Gesichter, den ganzen Tag! Man kennt sich mittlerweile bis zum Überdruß. 150 Leute, die auf der Stelle treten, ohne eine Möglichkeit der Verbindung nach außen. [...] Es sind hauptsächlich die Fremden, die Ansichtskarten

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