Eine illegitime Kunst. Pierre Bourdieu

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Eine illegitime Kunst - Pierre  Bourdieu eva taschenbuch

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der Besonderheit der objektiven Lage enthält, die dieses Gut als erreichbar oder als unerreichbar qualifiziert. Mit den Worten: »Das ist nichts für uns« sagt man mehr als: »Das ist zu teuer« (für uns). Ausdruck der verinnerlichten Notwendigkeit, steht diese Formel sozusagen im Indikativ-Imperativ, da sie zugleich eine Unmöglichkeit und ein Verbot anzeigt, eine Erinnerung an die Ordnung, aber auch eine Mahnung an diese. Im übrigen verknüpft sich das Bewußtsein vom Unmöglichen und Verbotenen – da es sich unter Berufung auf die Lage in ihrer Besonderheit konstituiert – mit der Wiedererkennung des konditionalen Charakters dieses Unmöglichen und Verbotenen, soll heißen, mit dem Bewußtsein von den Bedingungen, die, wollte man sie aufheben, zunächst einmal zusammengedacht werden müßten. Das heißt, diese Einstellung zur Photographie bildet sich angesichts eines Systems von Ansprüchen, die einen ambitionierteren und folglich kostspieligen Typus der photographischen Praxis definieren. Zur Erläuterung zitiere ich die Äußerungen eines fünfundvierzig jährigen Arbeiters:

      »Ich photographiere natürlich vor allem meine Kinder, aber auch meine Kumpel. [...] Das sind hauptsächlich Erinnerungsphotos, ich photographiere nämlich Personen nicht so gern. Ich mag lieber Landschaftsaufnahmen, es sei denn, es handelt sich um Photos, die aus dem Leben gegriffen sind, die Bewegung zeigen. [...] In diesem Bereich würde ich lieber Innenaufnahmen machen, aber dazu muß man die richtige Ausrüstung haben, man braucht Wandschirme und spezielle Lampen und muß lange belichten.«

      Kurz, eine andere Praxis hätte eine andere Ausrüstung zur Bedingung, aber dies setzte wiederum eine andere Einstellung gegenüber der Photographie, also andere Lebensverhältnisse voraus:

      »Nein, mit den Photos, die ich mache, bin ich nicht zufrieden, mit diesem Apparat werde ich wohl kaum bessere machen können; ich brauchte eine bessere Kamera. [...] Man muß eben in der Lage sein, einen ganzen Film zu opfern, um ein gutes Ergebnis zu erzielen. Aber ich hätte gern, daß meine Photos gleich beim ersten Mal gut werden, damit nicht unnütz Geld ausgegeben wird.«

      Aus diesem Grund, dem Gefühl, daß eine anspruchsvolle Praxis unmöglich und verboten ist, verbietet man sich selbst, daran Geschmack zu finden, und versagt es sich, sie zu schätzen:

      »Wer Innenaufnahmen machen will, muß die Photographie lieben; wenn ich welche machen wollte, oder auch Großaufnahmen, würde ich sie gern selbst entwickeln. Dazu habe ich weder die Zeit noch die Möglichkeit, noch die Mittel.«

      Diese Logik offenbart die ganze Bedeutung des Verhältnisses zum technischen Objekt, und das Verhältnis zum Photoapparat ist davon bloß ein Sonderfall. Wenn Arbeiter, die ein besonderes Interesse an der Photographie haben, häufig mit einem gewissen Stolz auf die Einfachheit ihrer Ausrüstung hinweisen und als verständige Wahl ausgeben, was nicht zuletzt eine Auswirkung ökonomischer Zwänge ist, dann deshalb, weil sie in der Verfeinerung technischer Manipulationen eine Chance sehen, ihr Interesse für das ausgereifte (und deshalb teuerste) technische Objekt mit ihrem Vorsatz in Übereinstimmung zu bringen, den Kauf eines solchen Objektes zu meiden, das für sie ohnehin unerschwinglich ist:

      »Mit den Photoapparaten ist es wie mit allem anderen auch, die teuersten sind nicht unbedingt die besten.« »Eine gute Verarbeitung ist wichtiger als eine komplizierte Mechanik.« »Hören Sie, ich kenne alle Fabrikate ziemlich gut, also, da gibt es welche, die nach nichts aussehen, mit denen kann man aber mehr anfangen als mit anderen, wenn man sich wirklich auskennt. Wer nicht gerade sehr auf Draht ist, der braucht meinetwegen viel Technik. Nehmen Sie nur mal die ›automatischen‹, ein guter Photograph wird damit nie das machen können, was mit einer ›manuellen‹ möglich ist. Außerdem will er das wahrscheinlich gar nicht. Das ist wie mit den Autos.«

      Die »Bastelei« widersteht der Verführung des technischen Objektes im gleichen Maße, wie sie ihr erliegt. Im Unterschied zu der Vorliebe für »Spielereien« oder sogenannte »gadgets«, die die Manipulationen durch die Multiplikation der zu manipulierenden Objekte vervielfacht, hilft sich die Selbstbeschränkung durch die Geschicklichkeit, einfallsreiche Lösungen zu erfinden, die es erlauben, dasselbe Ergebnis mit sparsamsten Mitteln zu erzielen. Die Raffinesse der technischen Gegenstände im Namen der Raffinesse des Technikers vorgeblich geringzuschätzen – das ist eine höchst realistische Weise, die Unerreichbarkeit der Objekte anzuerkennen, ohne auf Perfektion zu verzichten.

      Als Fiktion einer Erklärung und Erklärung von Fiktionen läßt somit die Motivationspsychologie die Frage offen, wie es kommt, daß die Photographie so weit verbreitet ist, obwohl sie kein primäres, d.h. »natürliches«, und erst recht kein sekundäres Bedürfnis befriedigt, das durch die Erziehung hervorgebracht und genährt worden wäre, wie etwa das Interesse an Museen oder Konzerten.

       Die Photographie als Ausdruck und Mittel der Integration

      Um die Unzulänglichkeit einer rein psychologischen Erklärung der photographischen Praxis und deren Verbreitung endgültig zu bekräftigen, bedarf es des Nachweises, daß eine soziologische Erklärung diese Praxis vollständig zu begründen vermag, und zwar nicht allein diese selbst, sondern obendrein ihre Instrumente, ihre bevorzugten Gegenstände, ihre Rhythmen, ihre Anlässe, ihre implizite Ästhetik, ja selbst die Erfahrung, die die Subjekte mit ihr machen, die Bedeutungen, die sie ihr verleihen, und die psychischen Gratifikationen, die sie aus ihr ziehen. Was dem Betrachter sogleich auffällt, sind die zahlreichen Regelmäßigkeiten, nach denen sich die allgemeine Praxis organisiert7: Nur wenige andere Tätigkeiten sind gleich stereotyp und der Anarchie individueller Absichten weniger überlassen. Mehr als zwei Drittel der Photoamateure sind Saisonkonformisten, die ihre Aufnahmen bei Familienfesten oder Freundestreffen oder in den Sommerferien machen.8 Wenn man bedenkt, daß eine sehr enge Korrelation besteht zwischen dem Merkmal »Haushalt mit Kindern« und dem Besitz eines Photoapparats, und daß dieser oft das Eigentum der ganzen Familie ist, dann wird klar, daß die photographische Praxis meist einzig ihrer Funktion für die Familie wegen lebendig bleibt, genauer: durch die Funktion, die ihr die Familie zuweist, nämlich die großen Augenblicke des Familiendaseins zu feiern und zu überliefern, kurz, die Integration der Familiengruppe zu verstärken, indem sie immer wieder das Gefühl neu bestätigt, das die Gruppe von sich und ihrer Einheit hat.9 In dem Maße, wie die Familienphotographie als Ritus des Hauskultes dient – wobei die Familie Subjekt und Objekt zugleich ist –, wie sie das Gefühl des Festes, das die Familie sich gibt, zum Ausdruck bringt und dadurch verstärkt, werden das Bedürfnis nach Photographien und das Bedürfnis zu photographieren (die Verinnerlichung der sozialen Rolle dieser Praxis) um so lebhafter empfunden, je integrierter die Gruppe und je höher die Integrationskraft des Augenblicks ist.10 Es ist also kein Zufall, wenn die soziale Bedeutung und die Funktion der Photographie nirgendwo deutlicher zutage treten als in einer ländlichen Gemeinde, die stark integriert und nachhaltig ihren bäuerlichen Traditionen verhaftet ist.11 Daß das photographische Bildnis, diese ungewöhnliche Erfindung, die Verwirrung oder Unruhe hätte stiften können, sich rasch einbürgert und durchsetzt (zwischen 1905 und 1914), hat seinen Grund darin, daß es alte, ihm vorausliegende Funktionen wahrnimmt, nämlich die hohen Zeitpunkte des kollektiven Lebens einzufangen und auf Dauerhaftigkeit zu stellen. Die Hochzeitsphotographie wurde deshalb so schnell und allgemein akzeptiert, weil sie den Zusammenhang mit ihren gesellschaftlichen Existenzbedingungen offen einbekannte – die Verschwendung als Verhaltensbestandteil bei Festlichkeiten, der Erwerb des Gruppenbildes, der demonstrative Aufwand, dem sich niemand entziehen konnte, ohne gegen den Ehrenkodex zu verstoßen, all dies wird als obligatorisch empfunden, als Element einer Huldigung, die den Jungverheirateten erwiesen wird.

      »Das Gruppenphoto ist sich jeder schuldig; wer keines abnehmen würde, gälte als geizig. Es wäre ein Affront gegenüber jenen, die zum Fest eingeladen haben. Es wäre rücksichtslos. Am Tisch ist man unter aller Augen, da kann keiner nein sagen.«

      Als Objekt geregelter Tauschhandlungen tritt die Photographie in den Kreislauf der Geschenke und Gegengeschenke ein, deren Anlaß die Hochzeit ist. Dies bringt es mit sich, daß es keine Hochzeit ohne den

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