Eine illegitime Kunst. Pierre Bourdieu

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Eine illegitime Kunst - Pierre Bourdieu страница 11

Eine illegitime Kunst - Pierre  Bourdieu eva taschenbuch

Скачать книгу

Dorf der guten Weine‹. Aber Ansichten von unserem Ort? Ausgeschlossen!«

      Die extreme Enge und Kompaktheit der Lebenswelt, der Umstand, daß das Erwachsenendasein sich in demselben Rahmen abspielt wie die Kindheit, schließen Fremdheits- und Befremdlichkeitsgefühle aus, jene leichte Verunsicherung, die dazu führt, die Dinge der Umwelt neu wahrzunehmen. Der Tourist und der Fremde rufen Erstaunen hervor, wenn sie die alltäglichen Gegenstände oder Menschen photographieren, die ihrer gewohnten Beschäftigung nachgehen. »Was, Sie photographieren diese Tür! O Gott, am Ende glauben Sie vielleicht, daß wir sie nicht beachten. Im Gegenteil! Sie ist schön!« Die vertraute Umgebung ist das, was man immer gesehen, aber nie wirklich wahrgenommen hat. Allenfalls ist man bereit, sein Haus zu photographieren oder photographieren zu lassen, nachdem man es renoviert oder geschmückt (an einem Feiertag beispielsweise), d. h. festlich hergerichtet hat, genauso wie man seinen Sonntagsstaat anlegt, wenn man sich im Atelier photographieren läßt.

      »Wenn das Haus schön wäre, die Zimmer netter gerichtet, die Felder in voller Frucht wären, mit schönen Bäumen und prächtigem Vieh. [...] Aber das ist jetzt nicht die Zeit: Die Felder sind kahl und die Kühe abgemagert.«

      Man trifft zwar so gut wie niemals einen Photographen, der nicht der Familienphotographie den ihr gebührenden Platz einräumte; doch gibt es viele unter ihnen, die der Photographie noch andere Sinnvarianten zuschreiben, freilich bloße Abwandlungen der archetypischen Gebrauchsweise. Unstreitig ist die Intensivierung der photographischen Praxis eng verknüpft mit Ferienzeit und Tourismus. Doch daraus darf weder gefolgert werden, daß die Urlaubs- oder Reisebilder nicht mit der familialen Funktion der Photographie erklärt werden könnten, noch daß bereits die Vervielfachung der Anlässe des Photographierens eine Praxis begründete, die mit neuen Bedeutungen ausgestattet wäre.30 Daß von denen, die in Urlaub fahren, mehr photographiert wird als von denen, die zu Hause geblieben sind, liegt sicherlich zum Teil daran, daß die Praxis der Photographie ebenso wie die Möglichkeit, zu verreisen, von der Höhe des Einkommens abhängt, aber auch und vor allem daran, daß der Urlaub zu den »hohen Zeiten« des Familienlebens zählt. Wenn allerdings Unterschiede in den objektiven Anlässen für Photoaufnahmen, die beispielsweise mit der Dauer oder dem Ort der Ferien zusammenhängen, keine nennenswerte Änderung in der Intensität der modalen Praxis nach sich ziehen, so darum, weil diese weniger von Anregungen etwa durch die Schönheit einer Landschaft oder die Verschiedenartigkeit der besuchten Orte abhängt als von gesellschaftlich definierten Anlässen.31 In dem Maße, wie die Ferien Gelegenheit zur Intensivierung der Familienbeziehungen (z.B. für alle, die ihren Urlaub mit der Familie verbringen wollen) und zu vermehrter Geselligkeit mit Freunden bieten, beflügeln sie auch die photographische Praxis, wobei freilich die in dieser Zeit aufgenommenen Bilder in der Regel ebenfalls Familienphotos, allerdings in Urlaubskonstellationen sind.32 Zwar erweitern die Ferien das Spektrum des Photographierbaren und fördern die Neigung zum Photographieren; aber diese Neigung ist nicht qualitativ verschieden von der traditionellen, sondern deren bloße Verlängerung: Eine Praxis, die so eng mit außeralltäglichen Anlässen verwoben ist, daß man sie für eine Technik des Festlichen halten könnte, muß sich notwendig in einer Periode verstärken, für die der Bruch mit der vertrauten Umwelt und mit den Routinen des regulären Daseins charakteristisch ist. Wer in eine quasi-touristische Haltung schlüpft, der entzieht sich dem Verhältnis achtloser Vertrautheit zur alltäglichen Welt, jenem unscharfen Hintergrund, vor dem sich die Formen abzeichnen, die für eine kurze Zeitspanne die Alltagssorgen ausblenden. Nun wird alles zu einer Quelle des Staunens, und der Reiseführer, der ständig zum Bewundern anhält, dient als Leitfaden einer gewappneten und geleiteten Wahrnehmung.33 Photographieren ist etwas, was man während der Ferien tut, und es ist zugleich das, was die Ferien ausmacht: »Ja, das ist meine Frau, die da die Straße entlanggeht; aber sicher, das war im Urlaub, da haben wir dieses Photo gemacht.« (Angestellter aus Paris, 28 Jahre, der sein Familienalbum zeigt.) Indem man noch die nebensächlichsten Orte und Augenblicke im Bild festschreibt, verwandelt man sie in Monumente der Muße: Das Photo soll und wird auf ewig bezeugen, daß man Muße gehabt hat und überdies die Muße, sie ins Bild zu bannen. Die Photographie, die die vergängliche Ungewißheit subjektiver Eindrücke durch die endgültige Gewißheit eines objektiven Bildes ersetzt, ist wie dazu geschaffen, als Trophäe zu fungieren. Während die bekannte alltägliche Umgebung niemals mit der Kamera aufgezeichnet wird, erscheinen Landschaften und Baudenkmäler auf den Ferienphotos als Schmuck oder als Zeichen. Das Photo in seiner allgemeinen Gestalt fixiert die ganz besondere Interaktion (obgleich diese unter identischen Umständen von tausend anderen ebenfalls erlebt werden kann) zwischen einer Person und einem sanktionierten Ort, zwischen einem außergewöhnlichen Augenblick des Lebens und einem durch seinen hohen symbolischen Wert außergewöhnlichen Ort. Der Anlaß der Reise (die Flitterwochen) erhebt die besuchten Orte in den Rang von feierlichen Stätten, und die eklatantesten von ihnen lassen wiederum den Anlaß der Reise noch feierlicher erscheinen. Von einer »wirklichen Hochzeitsreise« spricht man erst dann, wenn sich das Paar vor dem Eiffelturm hat photographieren lassen, denn Paris, das ist der Eiffelturm, und eine »wirkliche Hochzeitsreise« führt eben nach Paris. Eins der Bilder aus der Sammlung von J.B. wird in der Mitte durch den Eiffelturm geteilt, zu dessen Füßen die Frau von J. B. steht. Was uns wie Barbarismus oder Barbarei vorkommt, ist in Wahrheit die vollständige Verwirklichung einer Intention34: Die beiden Objekte, dazu bestimmt, sich gegenseitig zu erhöhen, sind genau in der Mitte des Bildes plaziert, und Zentrierung und Frontalität sind in der Tat die wirkungsvollsten Mittel, dem festgehaltenen Objekt Bedeutung zu verleihen.

      So gesehen wird die Photographie zu einer Art Ideogramm oder Allegorie, wobei die individuellen oder zufälligen Züge in den Hintergrund treten. Die photographierte Person wird in eine Umgebung gestellt, die man ihres starken Symbolwertes wegen ausgewählt hat (obwohl sie daneben auch einen ästhetischen Wert haben kann) und die als Zeichen aufgefaßt und gebraucht wird. Typisch dafür ist ein Photo, auf dem man P. vermutet (eine winzige Figur vor der Kirche Sacré Cœur, die den Arm bewegt) und das, wie meist, aus sehr großer Entfernung »geschossen« worden ist, weil man das gesamte Monument zusammen mit der Person auf dem Bild unterbringen wollte: Um die Person zu entdecken, muß man sozusagen »wissen, daß sie sich dort befindet«. Zahlreiche andere Abzüge zeigen eine Person, die nicht mit einem bedeutungsschweren Monument gekoppelt ist, sondern mit einem Schauplatz, der ebenso bedeutungslos ist wie ein Zeichen, zu dem der Schlüssel fehlt. Das gilt beispielsweise für solche Photos, die auf der ersten Plattform des Eiffelturms oder in den Fußgängertunnels der Pariser Metro aufgenommen wurden. Zur reinen Allegorie stilisiert, bedarf die Photographie der Erläuterung: »P. auf der Terrasse der ersten Plattform des Eiffelturms.« Es kommt auch vor, daß der Hintergrund ganz und gar belanglos und anonym ist – eine Tür, ein Haus oder ein Garten –, allerdings niemals in einem Grade, daß der informative Gehalt völlig verlorenginge, da der Hintergrund immerhin die Begegnung einer Person und eines Ortes in einem außergewöhnlichen Augenblick zum Ausdruck bringt: Dies ist die Tür zum Haus der Familie Untel, bei der man während der Hochzeitsreise in Paris gewohnt hat. Anders gewendet, die Logik der wechselseitigen Erhöhung von Person und Umgebung geht darauf aus, aus der Photographie ein Ideogramm zu machen, das aus der Konstellation alle zufälligen und zeitlichen Elemente, also alles, was Leben anzeigt, ausschließt. In der Sammlung von J. B. finden sich von Paris nur zeitlose Zeichen: In diesem Paris kommen Geschichte oder Passanten allenfalls beiläufig vor, es ist eine Stadt ohne Ereignisse.35 Obgleich sich das Spektrum des Photographierbaren ständig erweitert, ist die photographische Praxis deswegen nicht freier, da man nur das photographieren darf, was man photographieren muß, und weil es Bilder gibt, die man »unbedingt aufnehmen« muß, so wie es Naturschönheiten und Monumente gibt, die man »mitnehmen« muß. Traditionellen Funktionen unterworfen, bleibt die Praxis deshalb auch in der Wahl der Objekte, der Augenblicke und sogar in ihrer Intention traditionell: Sie verhält sich zur Ansichtskarte, von der sie häufig ihre Ästhetik und ihre Themen borgt, wie die häusliche Photographie zu der im Atelier. Selbst dort, wo sie den vertrauten Personen keinen Platz mehr gewährt und von einem genuinen Interesse am dargestellten Gegenstand geleitet scheint, seien es Landschaften oder Mahnmale, besteht ihre eigentliche Gebrauchsbestimmung noch darin, eine Beziehung zwischen Photograph und photographiertem Gegenstand zu signalisieren. Wenn die zeremoniellen Vorführungen von Diapositiven Langeweile hervorrufen

Скачать книгу