Eine illegitime Kunst. Pierre Bourdieu

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Eine illegitime Kunst - Pierre  Bourdieu eva taschenbuch

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da man dem Neuerer den Rechtsvorteil des Zweifels einräumt: Sein Verhalten könnte ja, gegen den Anschein, einer höchst lobenswerten Absicht entspringen, nämlich dem Wunsch, den Wert des ererbten Besitzes zu erhöhen – er handelt dann zwar gegen die bäuerliche Tradition, aber er handelt als Bauer. Auch kann sich die moralische Verurteilung in die Sprache der Skepsis des Technikers und des »Mannes von Erfahrung« kleiden: Die Strafe wird aus dem Gang der Dinge selbst folgen. Da der Neuerer das Risiko auf sich nimmt, einen Fehlschlag zu erleiden und sich lächerlich zu machen, verdient er immerhin Respekt.

      Allerdings empfindet die Gemeinde jede Neuerung, von der sie argwöhnt, daß sie der rationalen oder plausiblen Rechtfertigung entbehre, als Provokation oder Ketzerei. Tatsächlich zwingt ein großtuerisches oder als solches gedeutetes Verhalten ähnlich wie ein Geschenk, das jedes Gegengeschenk ausschließt, die Gruppe in die Lage der Unterlegenheit und kann nur als Affront erlebt werden, der ihre Selbstachtung verletzt. In diesem Fall erfolgt die Sanktion unverzüglich: »Was der sich einbildet!« »Für wen hält er sich?«

      Die Mißbilligung ist indes nicht bloß abhängig von der Art der Neuerung, sondern auch von der Situation und dem Status des Neuerers. Da man sie mit dem Leben in der Stadt in Verbindung bringt, vermutet man in der Photographie die Imitation städtischer Gewohnheiten. Sie wirkt als Ausdruck der Lossagung – als Gestus des Parvenüs. Ihn sieht man so, wie der Landmann die »Urlauber« sieht, d.h. die abgewanderten Dorfbewohner, die im Sommer zurückkehren, um hier ihre Ferien zu verbringen. Noch die beiläufigste ihrer Handlungen wird zum Gegenstand von Kommentaren, und selbst ein geringfügiger Verstoß gegen die Bräuche wird ihnen als Dünkel und Provokation ausgelegt:

      »Im allgemeinen hat man die Amateurphotographen scheel angesehen. Dazu muß man sagen, daß der Eindruck entstand, als würden sie sich über die Bauern lustig machen, die mitten bei der Arbeit waren. Und überhaupt, die waren ja bloß zum Urlaub hier ...«

      »M.F. hat Photos gemacht und wollte mich dauernd aufnehmen. Das war vielleicht ein Zirkus! [...] Ich habe sie abblitzen lassen, weil ich Angst hatte, daß die anderen sich über mich lustig machen würden. Ich habe mich geniert, weil meine Mutter gesagt hat: ›Sie spielt sich auf, sie kommt nur von Paris, um hier anzugeben.‹ In Paris leben, mit einer jämmerlichen Stelle, nichts zu beißen haben, aber mit einem Photoapparat ankommen! [...] Damit hatte die jedes Maß verloren. Sie wollte immer Familienbilder machen, aber meine Mutter ging gar nicht darauf ein: ›Das ist alles Angeberei. Sie kommt mit ihrem Apparat an, um aufzufallen, damit alle Welt weiß, daß sie in Paris ist‹, usw. Man darf eben nicht aus der Reihe tanzen und auffallen.«

      Die Beschäftigung mit der Photographie wird gerade dort vehement mißbilligt, wo sie – in ihrer Funktion als Statusattribut – den Versuch auszudrücken scheint, einer gesellschaftlichen Stellung minderen Ranges zu entrinnen: »Ein Dienstmädchen, und so was will photographieren!« Dem Ehrgeiz, sich zu unterscheiden, setzt man die Mahnung an die gemeinsame Herkunft entgegen: »Wir wissen, woher er kommt.« »Sein Vater ging noch in Holzschuhen!« Die Photographie, ein leichtsinniger Luxus, erscheint den Bauern als ein lächerlicher Barbarismus. Sich dieser kostspieligen Marotte des Städters hinzugeben, wäre etwa so, als wollte man an den Sommerabenden, wie die Pensionäre in der Kleinstadt, Arm in Arm mit seiner Frau einen Spaziergang durchs Dorf machen.

      »Ein Bauer, der Photos macht, daß ich nicht lache! Das überlassen wir besser den Leuten in der Stadt! Henri [mein Sohn] macht welche, aber der ist auch kein geborener Bauer. Wenn man nach der Arbeit fix und fertig ist, das gäbe ein schönes Photo!« »Ich habe noch nie einen Bauern gesehen, der regelmäßig Photos macht. Wenn einer von ihnen ausnahmsweise den Mut dazu hätte, z.B. am Hochzeitstag mit einem solchen Apparat herumzuhantieren, würde er sich lächerlich machen. Weiß Gott, sie können eben besser mit dem Pflug umgehen! Es gibt ein paar Frauen aus sehr guten Familien, die vor einer Hochzeit Photos aufnehmen, aber das ist eigentlich selten, und sie fallen auf. Sie spielen sich auf, diese Angeberinnen! Bei denen wird kein Bild was!« »Die Bauern, die ich kenne, haben Besseres zu tun, als mit so einem Gerät umzugehen, vor allem die kleinen wie wir. Das ist wohl ein teurer Spaß. Dazu muß man gut betucht sein, und das ist keiner von denen, die ich kenne.« »Auf dem Land gibt es kaum welche, die einen Photoapparat umhängen haben. [...] Aber es gibt viele, die einen Brotbeutel über der Schulter tragen, und den brauchen sie auch. [...] Das ist alles eine Mode. [...] Wer dafür keinen Sinn hat, der kümmert sich gar nicht erst darum.« »Man geniert sich, Aufnahmen zu machen. Teils schämt man sich, teils liegt es am eigenen Ungeschick. Das ist etwas für die Feriengäste, das gehört nicht aufs Land. Ein Bauer, der sich mit einem Photoapparat über der Schulter sehen ließe, das wäre ein verhinderter Herr. Um mit diesen Apparaten umgehen zu können, braucht man feine Hände. Und die Kröten? So was ist teuer. Das geht ins Geld, bis man den ganzen Krempel beisammenhat.«

      Kurz, wer photographieren wollte, würde den Städter nachahmen oder, wie man sagt, »den feinen Herrn markieren«. In der Tat stellt man seit jeher dem Bauern den »Herrn« gegenüber. Der Bauer von früher, der etwas auf sich hielt, grenzte sich ebenso vom »verbauerten« Bauern ab, vom »Hinterwäldler«, wie vom »verbürgerlichten« Bauern. Zwar sah man darüber hinweg, wenn ein Bauer sich so sehr in seine Arbeit verbissen hatte, daß er darüber bestimmte gesellschaftliche Pflichten vergaß; aber das kollektive Urteil war erbarmungslos gegenüber jedem, der auf den Gedanken verfiel, »den Herrn zu spielen«, und seine Aufgaben als Bauer vernachlässigte. »Sich zum Herrn machen«, das bedeutet einen zweifachen Verstoß gegen die fundamentalen Gebote der bäuerlichen Moral, nämlich sowohl als Mitglied der Gruppe wie auch als Bauer aus der Reihe zu tanzen, indem man seine Herkunft verleugnet. Dem Städter, der der Gruppe gänzlich fremd ist, gesteht man die »Abweichung« zu; sie gehört zu dem stereotypen Bild, das man sich von ihm macht. Der Photoapparat ist eins der Attribute des »Urlaubers«. Man macht – nicht ohne Ironie – dessen Launen mit, wirft sich vor seinem Ochsengespann in Positur und denkt sich: »Sie haben zuviel Zeit und zuviel Geld.« Gegenüber den im Ort Geborenen, die jetzt in der Stadt leben, ist man weniger tolerant, und noch weniger gegenüber den Bewohnern des nächsten Marktfleckens, von denen man argwöhnt, daß sie nur photographieren, um für Städter zu gelten. Anders ausgedrückt, nicht die Beschäftigung mit der Photographie generell wird abgelehnt: als Marotte und Liebhaberei des Städters paßt sie sehr gut zu den »Fremden«, freilich nur zu diesen. Was man für absolut verwerflich hält, ist der Gebrauch der Photographie als Mittel, sich von der Gruppe und der Lebenswelt der Bauern zu distanzieren.48 Genau genommen geht es darum, undiskutierte und bedingungslose Zustimmung zu einem System willkürlicher Regeln, die das Verhalten des Bauern von Grund auf prägen, sicherzustellen. Das wird ganz deutlich an dem folgenden Dialog zwischen zwei Bewohnern von Lesquire, für den das unaufhörliche Schwanken zwischen der schlichten Berufung auf die soziale Norm, jeweils willkürlich und unvermittelt, und dem Rückgriff auf Erklärungen aus Zweitursachen oder – gründen, denen das reale Verhalten widerspricht (vgl. das Schema auf den folgenden Seiten),49 charakteristisch ist.

      Wie man sieht, kommen die Werte der bäuerlichen Gesellschaft in den Zugeständnissen und Ausnahmen ebensogut zum Vorschein wie in den Geboten und Verboten. Soweit die Photographie dort akzeptiert wird, wo ihre Funktion in der Aufrechterhaltung der sozialen Beziehungen besteht, sofern sie als oberflächliche und daher nur dem Städter angemessene Beschäftigung für die Dauer der Adoleszenz toleriert wird, folgen diese Zugeständnisse gegenüber der Regel jenen Werten, an denen auch die Regel teilhat.

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      Die Heranwachsenden haben stets ein Anrecht auf erlaubte, d.h. symbolische

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