Eine illegitime Kunst. Pierre Bourdieu

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Eine illegitime Kunst - Pierre  Bourdieu eva taschenbuch

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sind sie für frivole Unternehmungen »zuständig«, ihnen obliegt die Organisierung und Vorbereitung von Festen, oder sie treiben Sport, während die Wahrnehmung von ernsthaften Angelegenheiten, beispielsweise von Gemeindeinteressen, bei den Erwachsenen liegt. Es verhält sich mit der Photographie wie mit dem Tanzen und den Techniken der verliebten Werbung, ja des Amüsements überhaupt. Bei den Jüngeren durchaus gebilligt, werden diese Praktiken mit der Eheschließung aufgegeben, die einen tiefen Einschnitt in die Existenz bezeichnet. Von einem Tag zum anderen ist es vorbei mit den Tanzvergnügen, den Ausflügen und der Photographie, die mit beiden gelegentlich verbunden war.

      »Sie machen Photos, wenn sie sich verlieben, wenn Tänze veranstaltet werden. Natürlich, wenn man jung ist, tauscht man Photos aus; nach 25 Jahren sieht alles ganz anders aus, da hat man andere Sorgen im Kopf.« »Sobald ein Paar auf dem Land geheiratet hat, muß es sich um andere Dinge kümmern. B., der größte Bauer in der Umgebung, hat während seiner Verlobung und in der ersten Zeit nach der Hochzeit noch Photos gemacht. Heute müssen sie den Gürtel noch enger schnallen als wir Kleinbauern. Solche Flausen vergehen einem schnell, wenn die familiären Sorgen kommen, genau wie die Lust, auswärts tanzen zu gehen. Meiner Meinung nach ist das ganz normal. Und schließlich die Photographie: dafür sind die Berufsphotographen da, jedenfalls für die feierlichen Anlässe.«

      So wird die Photographie als Objekt wie als Praxis immer nach der Logik jenes Systems impliziter Werte reinterpretiert, das die ländliche Gesellschaft beherrscht. Das photographische Bildnis, eine Innovation, deren man sich bedient, ohne sie ganz und gar gutzuheißen, wird von dieser Gesellschaft so weit übernommen, als es für sie eine Funktion zu erfüllen vermag. Bei den Heranwachsenden als Spielerei ohne Konsequenzen und Beständigkeit geduldet, den Frauen oder Familienmüttern gern zugestanden, weil sie in deren Händen gesellschaftlich vereinbarten Zwecken dient, widerspricht die photographische Praxis jedoch den männlichen Werten, die das Bild des typischen Bauern bestimmen; sie greift das Gebot der Konformität an, jenes ungeschriebene Gesetz, von dem das gesamte soziale Leben auf dem Land geprägt ist. Wenn das Bedürfnis, sich durch Nachahmung des Städters von anderen zu unterscheiden, gnadenlos mißbilligt und unterdrückt wird, weil man in ihm eine Herausforderung und einen erklärten Bruch mit der Gruppe erblickt, dann nicht zuletzt deshalb, weil diese Gesellschaft sich im Belagerungszustand erlebt und ihre Existenz verteidigt, indem sie sich versagt, der Lockung städtischer Werte nachzugeben.

      Der Differenzierungsprozeß, den die Dorfgemeinschaft stets zu verhindern oder zu kontrollieren sucht, kann sich innerhalb der städtischen Gesellschaft frei entfalten. In der Logik der Bestätigung durch das Gegenteil fungieren die Unterschichten der großen Städte als fester Vergleichsmaßstab oder, genauer, als Kontrastmittel, was sich damit erklären läßt, daß die Photographie, anders als die sublimen kulturellen Tätigkeiten, anscheinend allen zugänglich ist. Die Praxis der Unterschichten, die unmittelbar und ausnahmslos den traditionellen Kodes unterworfen bleibt, verdankt die Mehrzahl ihrer Merkmale, insbesondere ihre relative Homogenität, dem Einfluß ökonomischer Hemmnisse, die sich bei Angestellten und Arbeitern etwa gleich stark bemerkbar machen.50 Die relativ wenigen Photoamateure sind meist Saisonkonformisten, die geringe Anzahl der Engagierten erscheint als abweichende Randgruppe. In ihrer Intensität beschränkt, versagt sich diese Praxis überdies außergewöhnlichen Ansprüchen: Sie ist dazu verurteilt, den traditionellsten Funktionen zu dienen. Sie meidet die besonders anspruchsvollen Mittel oder geht jedenfalls sparsam mit ihnen um. Das gilt vor allem für den Gebrauch des Farbfilms, freilich nicht allein wegen dessen Kosten, sondern auch, weil die Farbphotographie im allgemeinen mit einer Erweiterung des Bereichs des Photographierbaren einhergeht, einer Erweiterung, die an Reisen gekoppelt ist. Solange man vom Photo nichts anderes verlangt als die Fixierung einer wiedererkennbaren Erinnerung (und die Gewohnheit erwartet von einem Familienphoto nichts anderes), genügt eine Schwarzweiß-Aufnahme.51 In diesem Fall verdammt die mindere technische Ausstattung zu einer unzulänglichen Praxis, gleichzeitig bringt sie die Ergebung in eine solche Praxis zum Ausdruck.52

      Der Wert, der der Photographie beigemessen wird, gründet darin, daß sie den Forderungen nach Realismus und Lesbarkeit genügt und besser als die Malerei (jedenfalls die moderne) den ästhetischen Erwartungen entspricht. So wird sie häufig zum Objekt einer ungebrochenen und gegenüber den Verhaltensregeln, die den ästhetischen Konsum der gebildeten Klasse bestimmen, gleichgültigen Zustimmung – zweifellos deshalb, weil man sich die Frage nach ihrer Zugehörigkeit zum Universum der Kunst nicht stellt, weil man sie nicht als Kunstwerk befragt und weil man nicht im Traum daran denkt, sie zu den erhabenen Künsten in Relation zu setzten, deren Legitimität man anerkennt, ohne daß sich dadurch das Urteil über die Photographie ändern würde. Das wird ganz deutlich an den Unsicherheiten und Widersprüchen in den Meinungen von Arbeitern zu unterschiedlichen Einschätzungen der Photographie, die ihnen vorgelegt wurden: Während es viele von ihnen ablehnen, sie für eine Kunst zu halten53, und in ihr ein Verfahren ohne Schwierigkeiten und Geheimnisse sehen, das anzuwenden keinerlei Begabung voraussetzt54, stimmen sie ebenso zahlreich Bewertungen zu, die die Photographie über die Malerei stellen.55

      Diese Widersprüche sind eher scheinbar und im Grunde genommen auf den Umstand zurückzuführen, daß erst die Problembeschreibung des Meinungsforschers und die Untersuchungssituation eine für die Unterschichten fiktive und artifizielle Fragestellung hervorbringen, nämlich die nach dem ästhetischen Wert der Photographie.56 So läßt z.B. die Tatsache, daß die Mehrzahl der Arbeiter bei der Ausschmückung der eigenen vier Wände der Photographie denselben Rang wie der Malerei einzuräumen geneigt ist, gleicherweise die Schlüsse zu, daß die Photographie für sie eine Kunst ist, daß sich für sie das Problem der Kunst bei der Photographie überhaupt nicht stellt, und daß eine bestimmte Art der Photographie den Normen einer »Ästhetik« unterliegt, deren man als solcher gar nicht habhaft werden kann.

      »Ich kann mit dem Kubismus und mit abstrakten Photos oder Bildern nichts anfangen,« sagt ein Arbeiter. »Das werde ich doch nie verstehen. [...] Landschaftsphotos mag ich am liebsten in Farbe, da sieht man die Jahreszeit und die Gegend, wo die Aufnahme gemacht wurde. Das Farbphoto lebt viel stärker als eine Schwarzweiß-Aufnahme. Das ist fast Cinemascope in Farbe. Das geht einem glatt runter.«

      Wie die Metapher des Essens belegt, ist die ästhetische Wahrnehmung als Genuß definiert. Ihn gewährt vor allem ein Werk, das eine Realität wiedergibt, die zum Genuß auffordert und sich unmittelbar, ohne angestrengtes Suchen oder Bemühen verstehen läßt. Deshalb erfüllen die Farbphotographie und das Farblitho die ästhetischen Erwartungen besonders erfolgreich – die Gewohnheit, die »guten« Zimmer der Wohnung mit bunten Ansichtskarten oder mit Reproduktionen realistischer Gemälde zu verzieren, ist dafür das Indiz. Ein Arbeiter stellt sich die Ausschmückung seiner Wohnung folgendermaßen vor:

      Die im strengen Sinne ästhetische Perzeption fehlt nicht nur dem Blick, den man auf das Photo wirft; sie ist der photographischen Praxis selber fremd. Man braucht die Ablehnung kühner Neuerungen gar nicht in erster Linie ökonomisch zu begründen; die bloße Vorstellung vom »Besonderen« ist so wenig vertraut, daß man es sich nicht anders als in Gestalt phantastischer oder ungewöhnlicher Einfälle der technischen Virtuosität denken kann: »Ich habe Leute gesehen, die schöne Bilder machen, nicht die üblichen Photos, z.B. eine Aufnahme, auf der der Eiffelturm durch die Beine eines Kindes photographiert worden ist. Man kommt selten auf die Idee, solche Photos zu machen.« (Arbeiter, 40 Jahre, der selbst photographiert.) Im Gegensatz zu dem, was diese Äußerungen nahelegen (in denen sich erneut die Situation der Befragung spiegelt), sind es

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