Eine illegitime Kunst. Pierre Bourdieu
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»Ich sondere alle familiären Erinnerungsbilder aus, die die Atmosphäre nicht wiedergeben und keinerlei ästhetische Merkmale aufweisen oder zur Pose erstarrt sind. Ich will keine traditionellen Photos, auf denen Einzelne oder Gruppen zu Füßen des Parthenon posieren. Ich hasse das Gedränge der Touristenscharen in Shorts zwischen den Ruinen des Parthenon. Im letzten Sommer habe ich 20 Minuten gewartet, bis ich eine Säulengruppe photographieren konnte, ohne daß mir irgendwelche Touristen vor die Kamera gelaufen sind.« (Lehrerin, 30 Jahre)
Weil ihnen die erlesenen Praktiken untersagt sind, erscheinen den niederen und mittleren Angestellten die engagierte Photographie, der Ästhetizismus des Armen, ja alle sekundären Kulturpraktiken, sei es die Lektüre populärwissenschaftlicher Zeitschriften wie Historia oder Science et Vie, sei es die Aneignung besonderer cineastischer Kenntnisse, als ein ihnen erreichbares Mittel, sich von anderen zu unterscheiden.71 Und in dem Maße, wie sie sich nur negativ bestimmt, bleibt die verneinende Ästhetik der passionierten Amateure in der Wahl ihrer Gegenstände oder in der Art, diese abzubilden, der Ästhetik der »einfachen Leute« verhaftet, die sie gleichwohl verleugnet.
Ob und inwieweit die Haltung der mittleren Angestellten und Beamten tatsächlich originell ist, ermißt man, wenn man sich klarmacht, daß die höheren Angestellten und Beamten weniger häufig photographieren, obwohl sie über ein höheres Einkommen verfügen und ihr Lebensstil ihnen zahlreiche und verschiedenartige Anlässe zum Photographieren bietet. Zwar ist der Besitz einer Kamera bei ihnen weiter verbreitet; aber das ist keineswegs ein Indiz für eine häufigere, geschweige denn ambitioniertere Praxis72: Selbst bei ansehnlicher Ausrüstung erscheint dieser Besitz eher als Reflex des Einkommens denn als Zeichen von Engagement. Der leichte Zugang zu den teuersten Kameras und dem aufwendigen Zubehör ist nicht zwangsläufig mit einer enthusiastischen Praxis verknüpft.73 Der Prozentsatz der passionierten Photographen liegt bei den höheren Angestellten und Beamten niedriger, wobei der Mehrbetrag an Einkommen und Freizeit in Verbindung mit einer Erweiterung und einer größeren Vielfalt der Reiseziele lediglich die Zahl der Saisonphotographen erhöht.
Wir haben es also bei den höheren Angestellten und Beamten mit ambivalenten Haltungen zu tun. Einerseits sind sie geneigt, dem Photographieren einen künstlerischen Wert beizumessen, und sie lehnen in ihren Äußerungen ziemlich durchgängig eine Beschränkung auf deren traditionelle Funktionen ab: das Horten von Familienerinnerungen und die Illustrierung bedeutsamer Ereignisse. Andererseits bezeugt ihr praktisches Verhalten, daß sie der Photographie nicht wirklich den Wert zugestehen, den sie ihr in ihren Beteuerungen anheften – in ihrer im allgemeinen wenig intensiven Praxis haben die traditionellen Funktionen ein beträchtliches Gewicht. Je weiter man sich von den abstrakten Urteilen entfernt, die auf die Photographie generell gemünzt und auf universelle ästhetische Prinzipien reduzierbar sind, und je mehr man sich an konkrete Äußerungen hält, die, indem sie den Rückgriff auf theoretische Kenntnisse ausschließen, indirekt zu einer Rückbesinnung auf die Erfahrung einladen, d.h. auf die tatsächliche Praxis, um so deutlicher wird, daß die höheren Angestellten und Beamten die ästhetischen Ambitionen, die sie abstrakt beteuern, preisgeben, während die mittleren Angestellten relativ häufig an virtuoser Praxis festhalten.74 Muß man daraus schließen, daß die Urteile, mit denen sie der Photographie den Status einer Kunst zuerkennen, lediglich eine verbale Reverenz sind, die im praktischen Verhalten keine Entsprechung hat?75 In Wirklichkeit sind die Ambivalenzen und Widersprüche zwischen den Aussagen der Befragten und ihrem Verhalten letztlich wohl auf die Stellung der Photographie innerhalb des Systems der schönen Künste zurückzuführen. Einerseits ist sie wie jede Praxis, die sich künstlerischen Werten verpflichtet, eine Möglichkeit zur Umsetzung der ästhetischen Haltung, eine fortwährende und generelle Disposition; weil jedoch andererseits die photographische Praxis, selbst in ihrer vollendeten Version (und erst recht in der Form, die ihr jeder Amateur gibt) innerhalb der Hierarchie künstlerischer Tätigkeiten einen sehr niedrigen Rang einnimmt, fühlen sich die Amateurphotographen nicht bindend gehalten, ihre ästhetische Erfahrung in der Photographie zum Ausdruck zu bringen.76 Das erklärt, warum die sachliche Zustimmung zu den traditionellen Gebrauchsweisen der Photographie, die sich gelegentlich in Trotz oder Provokation äußert77, mindestens ebenso häufig ist wie der künstlerische Ehrgeiz, und zwar sowohl bei verschiedenen Personen wie bei ein und demselben Befragten.
Kurz, die Photographie kann als Kunst gelten, und sie ist niemals mehr als eine Kunst zweiter Ordnung. Daher bleibt auf diesem Gebiet die Barbarei oder die Inkompetenz ebenso folgenlos wie die Virtuosität: Zurückhaltende Zustimmung und nüchterne Ablehnung sind zwei ähnliche Verfahren, den relativen Wert auszudrücken, den man der Photographie beimißt, »eine Ausdrucksmöglichkeit, die wenig kostet und den Unbegabten vorbehalten ist« (höherer Angestellter, 42 Jahre). Die Befragten mit dem höchsten Bildungsgrad, die in ihren Kommentaren zur Ästhetik der Photographien überaus beredsam sind, hüten sich vor begeisterter Zustimmung und unbefangener Schwärmerei. Sic nehmen die Photographie für eine Möglichkeit, ästhetische Geschmäcker und Kenntnisse, die durch die Ausübung anderer Kunstfertigkeiten erworben wurden, anzuwenden:
»Ich bringe in die Photographie ästhetische Vorstellungen ein. Mein Urteil schaltet sich ständig ein, damit ich keine simplen Urlaubsphotos mache.« (Anwalt, 30 Jahre)
Jede Äußerung über die Photographie nimmt den Charakter eines Kunstgriffs an, einer rhetorischen Übung; man spielt hier mit Gefühlen oder Geschmäckern, die ihrem eigentlichen Gegenstand nicht entsprechen. Da sie keine wirkliche gesellschaftliche Sanktionierung genießt, vermag die Photographie ihren Wert einzig aus dem Willensdekret des Betrachters zu ziehen, der sich je nach Lust und Laune und nicht aufgrund kultureller Erfordernisse dafür entscheidet, ihr wie zum Scherz und für einen Augenblick die Würde eines Kunstgegenstandes zu verleihen. Anders ausgedrückt: Die ambitionierte Photographie kann sich nur so lange halten, solange die sanktionierten kulturellen Aktivitäten, etwa der Besuch von Konzerten oder Theaterinszenierungen, Museen oder Kinovorführungen, ihr keine Konkurrenz machen und sie entwerten. Ein Indiz dafür ist, daß die höheren Angestellten und Beamten in Paris, von denen man weiß, daß sie weit mehr als die übrige Bevölkerung an kulturellen Veranstaltungen teilnehmen, viel seltener photographieren als die Bewohner einer Kleinstadt wie Lille. Auch photographieren die Söhne von höheren Angestellten und Beamten zwar in ihrer Jugend häufiger als die von mittleren und kleinen Angestellten, als Erwachsene jedoch sehr viel seltener als diese.78 In der Gruppe der Sprach- und Literaturstudenten ist bei den Söhnen der mittleren Angestellten der Anteil der Photographen konstant höher als bei den Söhnen der leitenden Angestellten – das genaue Gegenteil gilt im Hinblick auf die besonders bevorzugten kulturellen Praktiken (mit Ausnahme des Besuchs von Filmklubs).79 Ähnliche Konkurrenzerscheinungen lassen sich in anderen Bereichen feststellen: Wenn trotz unterschiedlicher Einkommen die leitenden Angestellten und Beamten kaum mehr Fernsehgeräte besitzen (35,8%) als die mittleren Angestellten und Beamten (31,5%), wenn der Besitz eines Plattenspielers fast regelmäßig den Besitz eines Fernsehgeräts ausschließt und umgekehrt, wenn die leitenden Angestellten ausdrücklich betonen, daß sie von ihrem Fernsehapparat einen selektiven Gebrauch machen80, so zweifellos darum, weil die sozial hochgeschätzten Praktiken die weniger geachteten relativieren, vielleicht aber auch, weil die Angehörigen der Oberschicht ihre Distanz zu Zerstreuungen kenntlich machen wollen, die allein schon durch ihre weite Verbreitung mit dem Verdacht des Vulgären behaftet sind.81
Kann man sich letztlich damit begnügen, auf den kulturellen und künstlerischen Status der Photographie zurückzugreifen, um die Zwiespältigkeit der von ihr hervorgerufenen Haltungen