Eine illegitime Kunst. Pierre Bourdieu
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Die Widersprüche in den Aussagen der Befragten sind mehr als bloß ein ideologisches Epiphänomen. Obgleich sie sowohl über die materiellen Voraussetzungen einer Praxis, die an ausgesprochen ästhetischen Zielen orientiert ist, d.h. über die entsprechenden ökonomischen Mittel, als auch über die künstlerische Bildung und die Anlässe für eine Praxis verfügen, die (hauptsächlich aufgrund des Tourismus) ein breites Spektrum von Gegenständen einschließt, messen die höheren Angestellten den traditionellen Gebrauchsweisen der Photographie eine ähnliche Bedeutung bei wie die Angehörigen der Unterschicht. Als Gegenstand zahlreicher Stereotypen impliziert die Beschäftigung mit der Photographie zweifellos mehr als jede andere Aktivität (vielleicht mit Ausnahme des Tourismus) ein Bewußtsein des objektiven Bildes dieser Praxis. Und jeder Amateur bezieht sich objektiv, in seiner eigenen Praxis, auf das Bild, das er von der Praxis der anderen hat, sowie auf das Bild, das die anderen von seiner Praxis haben. Liegt es nicht daran, daß sie die Photographie als vulgär wahrnehmen, wenn die Angehörigen der Oberschicht es ablehnen, in ihr etwas zu sehen, was Anstrengung und leidenschaftliche Hingabe verlohnte? »Mein Mann macht keine Photos. Er weiß, was er sich schuldig ist«, meinte die Frau eines höheren Angestellten, der seine Einstellung so begründete:
»Ich möchte keine Photos machen, weil alle Welt mehr als genug davon macht. Die Leute sehen nicht mehr, sondern denken nur noch ans Photographieren. Das ist absurd ...«
Wer in solchen Auskünften lediglich Rationalisierungen erblicken wollte, die die Wirklichkeit eher verdecken als öffnen, der fiele einem methodologischen Irrtum zum Opfer. Tatsächlich gibt es eine regelrechte spontane Soziologie, die aus satirischen Anekdoten und kritischen Halbreflexionen über die Lächerlichkeit bestimmter Photoenthusiasten besteht.84 Die Gemeinplätze der Konversation werden durch die Karikaturen in den Illustrierten, die komischen Geschichten in Chansons und bestimmten gutverkäuflichen Büchern transportiert und verstärkt, die die Sitten und Gebräuche der Zeitgenossen zu schildern und zu analysieren vorgeben. Wie anders ließe sich der Erfolg der Bücher eines Pierre Daninos erklären? Sie bestätigen diejenigen, die sie lesen, in der Gewißheit, daß sie die richtige Lebensart haben, im Gegensatz zu den ausgefeilten Ambitionen der aristokratischen Schichten und der Vulgarität der Mittelklassen, die sich im passionierten Photographieren oder Fernsehen ausdrücken.85 Die Ironie von Daninos, der den naiven Eifer der fanatischen Photoamateure verurteilt und über deren lächerliche Photoausrüstung beißenden Spott ausgießt, entlehnt ihre Motive der allgemeinen Konversation, die beruhigend wirkt, indem sie die Gewißheit der anderen bestätigt:
»Ich hege eine aufrichtige Bewunderung für alle diese Leute, die Spanien oder Italien mit Siebenmeilenstiefeln durchqueren, behängt mit Täschchen, Etuis, Entfernungsmessern, Wechselobjektiven, Belichtungsmessern und Farbthermometern (›um die Farbtemperatur zu messen‹), und die, ohne jemals auch nur einen Knopf an einer ihrer Umhängetaschen oder die kleinste Filmspule zu verlieren, mit Riesenschritten ins Leica-Zeitalter eintreten.«86
Hinter der Komik des Verhaltens wird die Einstellung zur Kultur sichtbar, wie sie sich vor allem im Tourismus bekundet:
»Was ich an diesen Kleinbildkameras am meisten furchte, das ist das Erlebnis dieses schrecklichen Sklavendaseins, zu dem sie eine Unzahl von Menschen verdammen, die wahrhaftig ein besseres Los verdient hätten. Sobald sie im Urlaub an einem vom Reiseführer empfohlenen Aussichtspunkt oder Turm ankommen, denken diese Reisenden zuallererst an ihren Apparat. [...] Statt die Landschaft mit den Augen zu betrachten, die sie im Kopf haben, beeilen sich diese Leute, sie von diesem dritten Auge bewundern zu lassen, das sie vor ihrem Bauch tragen.«87
In Unkenntnis der hohen Praxis der Kontemplation ohne Worte und Gesten, die vor bestimmten Landschaften oder Monumenten geboten wäre, verzehrt sich der unverbesserliche Photograph in seiner mühseligen Suche nach Bildern. Da er verlernt hat, das anzuschauen, was er photographiert88, reist er, ohne zu sehen, und kennt stets nur das, was der Apparat wiedergibt.89 In der Satire auf die passionierten Photographen und die photographische Besessenheit bringt die doxá von Daninos indirekt die Regeln der touristischen und der photographischen Praxis zum Ausdruck, die von der Oberschicht anerkannt werden. Sich zu den Normen der eigenen Gruppe konform zu verhalten, bedeutet demnach die Ablehnung einer vulgären Praxis und die Leugnung der Normen jener Gruppen, von denen man sich zu unterscheiden wünscht. Diese Normen erscheinen dem Bewußtsein lediglich in Gestalt negativer Gebote, die die Angst schüren, sich lächerlich zu machen. Sie können negativ sein, ohne sich auf die simple Negation der Normen anderer Gruppen zu beschränken. In der Ablehnung einer vulgären Praxis bezeugt sich ein Zwang zur Unterscheidung, welcher der Logik des Klassenethos folgt. Die Kleinbild-Fanatiker setzen die mühsame Askese der Aneignung (die sich im Französischen in dem Wort »faire« ausdrückt, z.B. in der Redewendung »faire l’Italie«) an die Stelle der Kontemplation, die angstvolle Akkumulation von Erinnerungen als Spuren und Belege ihrer »Produktivität« an die Stelle des interesselosen Ästhetizismus, der in der unmittelbaren Emotion zu sich selbst findet. Eine solche Einstellung verhält sich zu den sanktionierten Attitüden wie der Fleiß zur Begabung, wie die erworbenen Kenntnisse zur »natürlichen Qualifikation«. Die Vorstellung, die sich die Oberklassen von der touristischen und photographischen Praxis machen, unterliegt offenbar demselben charismatischen Prinzip wie ihre Vorstellung von »kultivierter Haltung«, ja, ihre Haltung zur Kultur überhaupt.
Das Streben nach Statusunterschieden (das sich auf allen Stufen der sozialen Hierarchie beobachten läßt) verstärkt also lediglich die Klassenunterschiede. Da es keine Instanzen gibt, die eine Hierarchie von Praxistypen und eine allgemein akzeptierte Rangordnung der konformen Verhaltensweisen zu definieren vermöchten, können Verfeinerung und Differenzierung im Bereich der Photographie einzig in der Gegnerschaft zur Vulgarität sichtbar werden – die Angehörigen der Oberklassen können sich nur negativ definieren, gleichgültig, ob sie eine gute Photographie kennzeichnen als »ein Werk, das mit dem der anderen nicht vergleichbar ist«, oder ob sie in ihrer ästhetischen Wahl darauf zielen, »nicht einfach die üblichen Urlaubsbilder zu machen«. Kurz, selbst im günstigsten Fall ist die photographische Praxis kaum jemals auf spezifisch und streng ästhetische Zwecke gerichtet. Abgesehen davon, daß das Unterfangen, weil es sich nicht auf Sprache und begründete Normen stützen kann, besonders schwierig ist, verwirklicht sich die ästhetische Absicht, die immer schon eine von vielen Formen des Strebens nach Unterscheidung oder, wie man sagt, »Distinguiertheit« war, letztlich in der Tat nur mittels der Negation, also ebensowohl in einer Praxis, die mit der allgemeinen Laxheit bricht, wie in dem Verzicht auf jederlei Praxis.
Ihrer sozialen Funktion verdankt die Photographie ihre immense Verbreitung, aber auch ihre Eigentümlichkeiten und, nicht zuletzt, sogar die Grenzen dieser Verbreitung. Daß die photographische Praxis stärker als jede andere kulturelle Tätigkeit einem natürlichen Bedürfnis zu folgen scheint, hängt fraglos mit ihrer