Eine illegitime Kunst. Pierre Bourdieu

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Eine illegitime Kunst - Pierre  Bourdieu eva taschenbuch

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und sich in ihnen oft nichts anderes ausdrückt als die schlichte und private Konstellation zwischen dem Photographen und seinem Objekt, so daß sie jede Bedeutung und allen Wert verlieren, sobald sie von einem Betrachter als Bilder an und für sich wahrgenommen werden, einem Betrachter, der gegenüber dem besonderen Erlebnis ihres Urhebers gleichgültig bleibt.36 Es kann sich also die traditionellen Funktionen verhaftete Praxis quantitativ erweitern, ohne daß jemals eine im strengen Sinne ästhetische Komponente zum Zuge kommt. Der Schritt in eine engagierte Praxis setzt nämlich mehr und etwas anderes voraus als die schlichte Intensivierung des Gelegenheitshandelns. Es besteht zwischen einer Photographie im Dienste des familialen Gebrauchs und einer engagierten Praxis ein gravierender Unterschied. Indem erstere den Akzent auf das erzeugte Bild setzt, kann sie sich per definitionem nicht endlos intensivieren – stets an außergewöhnliche Anlässe gebunden, bleibt sie oftmals zeitlich befristet. Demgegenüber ist eine passioniert betriebene Praxis, die den Akt der Produktion in den Vordergrund rückt, einer unbegrenzten Erweiterung fähig, da sie von Grund auf und ständig, als Anstrengung zu technischer und ästhetischer Vollkommenheit, die Überwindung des eigenen Produkts produziert. Zweifellos ist das Bemühen um eine hohe technische Qualität des Bildes ein Anreiz, sich mit einer hochwertigen Ausrüstung zu versehen. Doch es entfaltet sich auf einer anderen Ebene als der Wunsch nach einer ästhetischen Qualität des Bildes. Das ist auch der Grund dafür, daß das private Filmen noch nachdrücklicher als das Photographieren von familialen Verwendungszusammenhängen geprägt ist: Daß der Ehrgeiz, das Filmen wie eine Kunst zu betreiben, sogar unter passionierten Amateurfilmern äußerst selten ist, liegt nicht lediglich daran, daß damit neben technischer Versiertheit Zeit und Mühe verbunden sind, die für Operationen aufgewendet werden müssen, die weniger interessant sind als die Filmaufnahme selbst, sondern auch daran, daß man die Szenarios erst erfinden und konstruieren müßte, die das Familienleben in Gestalt organisierter Abfolgen von Ereignissen bereits fix und fertig liefert – mit unmittelbarer Bedeutung zumindest für denjenigen, der sie filmt, und für die, die sich das Gefilmte ansehen werden.37

      Weil sie stets den Blick auf die Erfüllung gesellschaftlicher und gesellschaftlich definierter Funktionen gerichtet hält, ist die übliche Praxis zwangsläufig rituell und zeremoniell, folglich ebenso stereotyp in der Wahl ihrer Objekte wie in ihren Ausdruckstechniken. Als institutionalisierte Pietät vollzieht sie sich einzig im Rahmen sanktionierter Umstände und Örtlichkeiten. Und in ihrem Vorsatz, das Feierliche zu feiern und das Heilige zu heiligen, bleibt sie immun gegen den Einfall, irgend jemandem oder irgend etwas zur Würde des »Photographierten« zu verhelfen, das sich nicht objektiv (d. h. gesellschaftlich) als »photographierbar« definiert und als »würdig, photographiert zu werden« – in beiden Fällen ist dasselbe Prinzip am Werk. Solange die Praxis nichts anderes ist als das Photographieren des Photographierbaren, so lange ist sie an diese Stätten und Augenblicke gekettet, von denen sie im doppelten Sinne des Wortes determiniert wird. Als permanente und verallgemeinerte Bereitschaft, jedes beliebige Objekt in den Rang eines Kunstwerks zu erheben, ist die künstlerische Einstellung, die das Prinzip ihrer Auswahl selbst bestimmt, die sich selbst determiniert, indem sie ihre Gegenstände determiniert, durch eine wesentliche Differenz von einer Praxis geschieden, die das Prinzip ihrer Existenz und ihrer Begrenzung außerhalb ihrer selbst sucht.

       Devotion oder Devianz?

      Die nämlichen Faktoren sind es, denen die photographische Praxis ihre immense Verbreitung verdankt, auch wenn es keinerlei institutionalisierten Anreiz oder eine Anleitung dazu gibt; die dafür sorgen, daß sie nur selten einer genuin ästhetischen Intention folgt und daß spezifisch künstlerische Interessen vor allem von Individuen oder Gruppen favorisiert werden, die von traditionellen Funktionen am stärksten entbunden sind.38 In der Tat ist Aufmerksamkeit für eine an ästhetischen Zielen orientierte Praxis nicht systematisch oder ausschließlich bei den Befragten mit dem höchsten Bildungsstand anzutreffen, d. h. bei denen, die am ehesten in der Lage wären, eine durch Bildung erworbene generelle Disposition auf eine spezifische Tätigkeit anzuwenden; man findet sie vielmehr bei denen, die aufgrund ihres Alters, ihres Familienstandes oder ihres Berufs weniger nachhaltig in die Gesellschaft integriert sind.39 Das wird verständlich, wenn man sich vergegenwärtigt, daß die Ausbildung eines genuinen Interesses für die Photographie die Aufhebung der traditionellen Funktionen voraussetzt (die, wie wir gesehen haben, der Gruppenintegration dienen), und daß ohne diese Voraussetzung Photographie zu betreiben eine Anomalie darstellt40: Innerhalb der eigenen Gruppe gegen den Strom schwimmen, bedeutet, sich zwingen, eine ungewöhnliche Praxis mit ungewöhnlicher Hingabe zu leben.

      Wir wollen die Umkehrung nicht zu weit treiben, doch die Beobachtung lehrt, daß gegenüber der Familienphotographie, Zeichen und Mittel der Integration in einem, die durch die Negation des familialen Gebrauchs definierte Photographie häufig eine geringer ausgeprägte Integration in die Familiengruppe oder den Beruf verrät, während sie andererseits bisweilen diese schwache Integration verstärkt, indem sie sie zum Ausdruck bringt. So ranken sich die kleinen Ehedramen mit wechselseitigen Vorwürfen (bei denen man sich halb scherzhaft, halb ernsthaft gegenseitig neckt) oft um die mit besonderer Hingabe betriebene Photographie:

      »Natürlich paßt das meiner Frau überhaupt nicht«, erklärt ein Vorarbeiter, Mitglied eines Photoklubs. »Also heute abend z.B. bin ich bereits zu spät dran und weiß schon jetzt, was ich zu hören kriege: ›Du mit deiner Photographie!‹ Wissen Sie, die meisten Frauen können mit der Photographie nichts anfangen.«

      Daß zahlreiche passionierte Amateure kategorisch auf einer Trennung der Geschlechter je nach photographischen Aufgaben und Interessen bestehen, daß sie sich eifersüchtig die anspruchsvollen Anwendungsgebiete vorbehalten und ihren Frauen lediglich die traditionellen überlassen, für die sie ihrer »Weiblichkeit« wegen »prädestiniert« seien, läßt erkennen, wie sehr die als Liebhaberei aufgefaßte Photographie, deren ästhetisches Credo sich, vor allem in den weniger gebildeten Schichten, oft auf die Absage an die Familienphotographie reduziert, aus ebendemselben Grund nach einer Komplementärpraxis verlangt, die der Frau reserviert wird und ausschließlich familialen Zwecken gehorcht.

      Tatsächlich findet der ambitionierte Photograph eine – wenn auch noch so eingeschränkte – Definition seines Vorhabens in der Absage an die rituellen Objekte der Alltagsphotographie. Wenn man sich vergegenwärtigt, daß der Photoapparat fast immer Gemeinschaftseigentum ist, das unterschiedslos von den Gruppenmitgliedern in gemeinsamem Gebrauch genutzt wird, dann wird deutlich, daß der autonome Gebrauch der Kamera den Sinn eines Bruchs mit dem Gemeineigentum annimmt: Die Negation der Familienphotographie bedeutet wennschon nicht die Leugnung des Wertes der Familie überhaupt, so doch immerhin eines der Familienwerte, indem man sich weigert, dem Familienkult zu huldigen. Und das Verhalten des Fanatikers, der sich lange bitten läßt, bis er endlich eine Aufnahme von den Kindern macht, obwohl er viele Stunden zurückgezogen in der Dunkelkammer verbringt, steht dem Verhalten des Photographen, der feierlich und öffentlich dem Familienkult huldigt, in derselben Weise gegenüber, wie – soziologisch ausgedrückt – die Magie der Religion.

      Nach alledem überrascht es nicht, daß die Saisonkonformisten und die passionierten Amateure zwei statistische Gruppen mit gänzlich entgegengesetzten Merkmalen bilden: Engagierte Photographen finden sich häufiger unter den Unverheirateten, in kinderlosen Familien und bei den Jüngeren (vor allem im Alter von 18 bis 20 Jahren), d.h., in den Gruppen und Schichten, in denen die Gelegenheitsphotographen am schwächsten repräsentiert sind, so als ob diese Passion ein um so günstigeres Terrain hätte, je weniger sich der Druck der traditionellen Funktionen bemerkbar macht.41

      Zwar liegt der Anteil der Photoamateure bei den Unverheirateten niedriger als bei den Verheirateten, aber dafür nimmt die Praxis bei ihnen in der Regel sehr viel engagiertere Züge an. Sie sind weniger geneigt, die Photographie in den Dienst traditioneller Funktionen zu stellen, und unterscheiden sich im Hinblick auf ästhetische Intentionen von den Verheirateten eklatant in ihrer photographischen Praxis. Beschreibt man unter Rückgriff auf die Terminologie Durkheims zur Charakterisierung unterschiedlicher Typen des Selbstmords die Praxis dieser Photographie

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