Denkwürdigkeiten des Pickwick-Klubs. Charles Dickens
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Wo die Zeit schon gekommen hin.
Blüht noch der alte Efeu grün.«
Während der alte Herr diese Verse nochmals wiederholte, um es Herrn Snodgraß zu ermöglichen, sie zu notieren, betrachtete Herr Pickwick die Gesichtszüge des Geistlichen mit großem Interesse, und als der alte Herr mit Diktieren fertig war und Herr Snodgraß sein Notizbuch in die Tasche gesteckt hatte, begann das würdige Pickwickier -Haupt:
»Sie entschuldigen, Sir, daß ich mir nach einer so kurzen Bekanntschaft eine Bemerkung erlaube. Ich sollte meinen, ein Mann wie Sie müßte während seiner Amtsführung als Diener des Evangeliums so manche der Mitteilung werte Szenen und Ereignisse erlebt haben.«
»Allerdings erlebte ich schon vieles«, erwiderte der Geistliche; »aber die meisten Ereignisse und Charaktere, die mir vorkamen, waren bei meinem beschränkten Wirkungskreise nur gewöhnlicher Art.«
»Ich nehme indessen an. Sie haben sich einiges über John Edmunds aufgezeichnet, nicht wahr?« fragte Herr Wardle, der ihn im Interesse seiner neuen Gäste zum Erzählen anzuregen suchte.
Der alte Herr nickte bejahend, wollte jedoch dem Gespräch eine andere Wendung geben, als Herr Pickwick sagte:
»Um Vergebung, Sir, wenn ich fragen darf, wer war denn dieser John Edmunds?«
»Ja, das wollte ich eben auch fragen«, fiel Herr Snodgraß rasch ein.
»Sie verstehen sich ja auf solche Dinge«, sagte der aufgeräumte Wirt. »Und es hilft Ihnen nichts, Sie müssen die Neugier dieser Herren früher oder später doch einmal befriedigen. Das Beste wäre, wenn Sie der jetzigen Aufforderung Gehör gäben und es gleich täten.«
Der alte Herr lächelte gutmütig und rückte seinen Stuhl weiter vor. Die übrige Gesellschaft setzte sich enger zusammen, besonders Herr Tupman und die Jungfertante, die etwas schwerhörig sein mochte, und nachdem der alten Dame das Hörrohr an das Öhr gesetzt, und Herr Miller, der während der Rezitation der Verse in Schlaf gefallen, durch ein anregendes Kneipen unter dem Tische von seiten seines Ausspielgefährten, des feierlichen dicken Mannes, aufgeweckt worden war, begann der Geistliche ohne weitere Vorrede folgende Erzählung, die wir uns zu betiteln erlauben:
»Die Rückkehr des Sträflings.«
»Als ich mich – es sind jetzt bereits fünfundzwanzig Jahre – hier in diesem Dorfe niederließ, war ein Pächter, Namens Edmunds, das verrufenste Individuum in meinem Kirchspiel. Er war ein mürrischer, bösartiger Mann, träge und Ausschweifungen ergeben, dabei wild und grausam von Gemüt. Mit Ausnahme weniger liederlicher Gesellen, mit denen er herumzustreichen und sich in den Bier- und Branntweinschenken zu betrinken pflegte, hatte er keinen einzigen Freund oder Bekannten. Niemand mochte gern mit dem Manne verkehren, den viele fürchteten. Alle aber verabscheuten ihn, und so ward er denn von jedermann gemieden.
Dieser Mann hatte ein Weib und einen Sohn, der zur Zeit, wo ich hierher kam, etwa zwölf Jahre alt sein mochte. Von den Leiden jener Frau, von der Sanftmut und Geduld, mit der sie diese ertrug, von den Kämpfen und Sorgen, unter denen sie den Knaben erzog, kann man sich schwer einen Begriff machen. Der Himmel mag es mir verzeihen, wenn ich dem Manne unrecht tue, aber ich bin fest davon überzeugt, daß er es viele Jahre hindurch geflissentlich darauf anlegte, sein Weib durch Kummer unter die Erde zu bringen. Sie ertrug jedoch alles geduldig um ihres Kindes, und wie unglaublich das auch vielen vorkommen mag, um seines Vaters willen. So roh er nämlich auch war, und so grausam er mit ihr umging, sie hatte ihn doch einst geliebt, und die Erinnerung an das, was er ihr gewesen, erweckte Gefühle der Nachsicht und Sanftmut in ihrem Herzen, wie man sie unter allen Geschöpfen Gottes bloß beim Weibe findet.
Sie waren arm – wie hätte es auch anders sein können, wo der Mann auf solchen Pfaden wandelte? Doch der unablässige und angestrengte Fleiß der Frau wendete gänzlichen Mangel ab. Freilich wurden ihr diese Anstrengungen schlecht vergolten. Leute, die noch spät in der Nacht an ihrer Wohnung vorbeigingen, erzählten, sie hätten das Wehklagen und Jammern einer Frau und den Schall von Schlägen gehört; und mehr als einmal hatte der Knabe lange nach Mitternacht noch an einem Nachbarhause geklopft, um sich vor der Wut seines betrunkenen, unnatürlichen Vaters zu retten.
Während dieser ganzen Zeit besuchte die arme Frau, die die Spuren der üblen Behandlung nicht immer ganz verbergen konnte, regelmäßig unsere kleine Kirche. Jeden Sonntag, im Früh- und Nachmittagsgottesdienst, saß sie mit ihrem Knaben an derselben Stelle: und obgleich beide nur ärmlich – und zwar noch ärmlicher, als viele ihrer noch bedürftigeren Nachbarn – gekleidet waren, so war ihr Anzug doch immer sauber. Jedermann hatte einen freundlichen Gruß und ein tröstendes Wort für die arme Frau. Wenn sie bisweilen nach dem Gottesdienste unter den Ulmenbäumen vor der Kirche stehen blieb, um ein paar Worte mit einer Nachbarin zu wechseln, oder mit all dem Stolz und all der Liebe einer Mutter ihrem blühenden Knaben zuzuschauen, wie er sich mit seinen kleinen Gespielen herumtummelte, dann röteten freudige Empfindungen ihr von Sorgen gebleichtes Gesicht, und sie sah, wenn auch nicht froh und glücklich; doch ruhig und zufrieden aus.
So verstrichen fünf bis sechs Jahre, und der Knabe war zu einem starken, wohlgebauten Jünglinge herangewachsen. Die Zeit, die den zarten Gliederbau des Kindes zu männlicher Kraft reifte, hatte die Gestalt der Mutter gebeugt und ihre Schritte wankend gemacht: aber der Arm, der sie hatte stützen sollen, ergriff nicht mehr den ihrigen: das Antlitz, das sie hätte erheitern sollen, war ihrem Anblick entzogen. Sie behauptete ihren Platz in der Kirche, aber die Stelle neben ihr war leer. Sie hielt die Bibel so andächtig wie immer in der Hand, aber es war niemand da, sie mit ihr zu lesen, und schwere Tränentropfen fielen auf das Buch, so daß ihr die heiligen Worte vor den Augen verschwammen. Die Nachbarn waren gegen sie noch ebenso freundlich wie vorher, aber sie vermied ihre Grüße mit abgewandtem Gesicht. Sie weilte nicht mehr zögernd unter den Ulmenbäumen – kein süßer Vorgenuß künftigen Glücks war übriggeblieben. Die verlassene Frau zog den Strohhut tiefer ins Gesicht und ging eilenden Schrittes von dannen.
Muß ich erst sagen, daß der junge Mensch bei dem Rückblick auf die Tage seiner frühesten Kindheit sich an nichts erinnern konnte, was nicht auf irgendeine Weise mit einer langen Reihe von freiwilligen Entbehrungen, die sich seine Mutter um seinetwillen auferlegte, von Kränkungen und Leiden, die sie für ihn ertragen hatte, zusammenhing? Muß ich sagen, daß er sich mit gefühlloser Gleichgültigkeit gegen ihren grenzenlosen Kummer und ihre zärtliche Mutterliebe in verstockter Vergessenheit all dessen, was sie für ihn erduldet, einer Rotte von nichtswürdigen, verworfenen Menschen anschloß, daß er in tollem Übermut eine verderbliche Bahn betrat, die ihm den Tod und der Mutter Schande bereiten mußte? Ach, was ist es um die Natur des Menschen! Ihr habt es wohl schon lange erraten.
Das Maß des Elends der unglücklichen Frau sollte sich bald erfüllen. Zahlreiche Untaten waren in der Umgegend begangen worden. Da jedoch die Verbrecher unentdeckt blieben, so trieben sie ihr Unwesen nur um so dreister. Endlich veranlaßte eine mit beispielloser Frechheit verübte Räuberei eine ungewöhnlich strenge Nachforschung, die man nicht vermutet hatte. Es fiel Verdacht auf den jungen Edmunds und seine drei Spießgesellen. Er wurde verhaftet – vor Gericht gestellt – für schuldig erkannt – und zum Tode verurteilt.
Der wilde, durchdringende Schrei einer weiblichen Stimme, der durch den Gerichtssaal tönte, als der feierliche Spruch gefällt wurde, klingt noch in meinen Ohren. Er füllte das Herz des Verbrechers, auf den das Verhör, die Verurteilung, das Nahen des Todes keinen Eindruck machte, mit Schrecken. Die Lippen, die bisher starrköpfiger Trotz verschlossen hatte, bebten und öffneten sich unwillkürlich; das Gesicht nahm eine erdfahle Farbe an, als der kalte Schweiß aus allen Poren drang. Die derben Glieder des Verbrechers zitterten, und er wankte in den Kerker zurück.
In den ersten Ausbrüchen ihrer